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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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ich vergessen habe, sagte mir eines Tages: "Ich bin ein Schwamm
für das Lob, und eine Wachsleinwand für den Tadel/' Ingres ist
aber ein Schwamm für Lob und für Tadel; anstatt die Schmähungen
der Unwissenheit und des Neides mit der überlegenen Ruhe, der
geeignetsten Waffe des Genies, anzuhören, hat er die Schwäche, sich
dadurch zu betrüben, und dle'noch größere, sich entmuthigen zu lassen.

Ich habe mich oft gefragt, wozu die Kritik, wie sie heut zu Tage
beschaffen ist, überhaupt nütze,.'.und ob sie nicht auf manche Men-
schen geradezu schädlich wirke. Ursprünglich der Dollmetsch zwischen
dem Publicum und dem Künstler, die Auölegerin der Gedanken des
Letztern, hat sie sich bald von diesem Amte losgemacht; anstatt bloße
Berichterstatterin zu sein, ist sie Richterin geworden, und was das
Echo sein sollte, ist jetzt die Stimme, und was die Stimme, das
Echo geworden. Von diesem Augenblick an gibt es eigentlich kein
öffentliches Urtheil mehr. Eigentlich hätten Publicum und Künstler
bei dieser Veränderung gewinnen müssen, wenn die Leiterin der öf¬
fentlichen Meinung die Wissenschaft und die Unparteilichkeit des Rich¬
ters gehabt hätte. Aber in ihrem Tadel eben so maßlos wie in ih¬
rem Lobe, sieht der Künstler in ihr nur eine ihm günstige oder un¬
günstige Parteistimme, und achtet sie entweder zu viel oder zu wenig.

Auch auf Ingres hat sie einen nur nachtheiligen Einfluß geübt;
er läßt sich zu leicht von ihr entmuthigen und hört ganz oder fast
ganz auf zu schaffen, was zugleich ein Unglück für die Kunst und
den Künstler ist.

1835 wurde JngreS zum Nachfolger Horace Vernet's als Vor¬
steher der französischen Academie in Rom bestimmt, eine Stelle, die
er mit Vergnügen annahm, um sich an den Werken Raphael'S, sei¬
nes göttlichen Meisters, für die Verkennung seiner Zeitgenossen trösten
zu können. Die Frucht dieses Aufenthaltes in Rom war die Stra-
tonice, welche er im Auftrage des Herzogs von Orleans malte.
Bald darauf verließ JngreS abermals Rom und kehrte nach Frank¬
reich zurück, wo er seitdem von dem Herzog von Luynes beauftragt
worden ist, die Galerie des Schlosses Dampierre zu malen. Dem
Vernehmen nach wird ihn diese Arbeit mehrere Jahre lang beschäf¬
tigen.

Die Hauptschwäche unsers Künstlers besteht in dem schlechten
Colorit, welches sich vorzüglich in der Färbung des Fleisches und dem


Grenzboten 1844, l. Z4

ich vergessen habe, sagte mir eines Tages: „Ich bin ein Schwamm
für das Lob, und eine Wachsleinwand für den Tadel/' Ingres ist
aber ein Schwamm für Lob und für Tadel; anstatt die Schmähungen
der Unwissenheit und des Neides mit der überlegenen Ruhe, der
geeignetsten Waffe des Genies, anzuhören, hat er die Schwäche, sich
dadurch zu betrüben, und dle'noch größere, sich entmuthigen zu lassen.

Ich habe mich oft gefragt, wozu die Kritik, wie sie heut zu Tage
beschaffen ist, überhaupt nütze,.'.und ob sie nicht auf manche Men-
schen geradezu schädlich wirke. Ursprünglich der Dollmetsch zwischen
dem Publicum und dem Künstler, die Auölegerin der Gedanken des
Letztern, hat sie sich bald von diesem Amte losgemacht; anstatt bloße
Berichterstatterin zu sein, ist sie Richterin geworden, und was das
Echo sein sollte, ist jetzt die Stimme, und was die Stimme, das
Echo geworden. Von diesem Augenblick an gibt es eigentlich kein
öffentliches Urtheil mehr. Eigentlich hätten Publicum und Künstler
bei dieser Veränderung gewinnen müssen, wenn die Leiterin der öf¬
fentlichen Meinung die Wissenschaft und die Unparteilichkeit des Rich¬
ters gehabt hätte. Aber in ihrem Tadel eben so maßlos wie in ih¬
rem Lobe, sieht der Künstler in ihr nur eine ihm günstige oder un¬
günstige Parteistimme, und achtet sie entweder zu viel oder zu wenig.

Auch auf Ingres hat sie einen nur nachtheiligen Einfluß geübt;
er läßt sich zu leicht von ihr entmuthigen und hört ganz oder fast
ganz auf zu schaffen, was zugleich ein Unglück für die Kunst und
den Künstler ist.

1835 wurde JngreS zum Nachfolger Horace Vernet's als Vor¬
steher der französischen Academie in Rom bestimmt, eine Stelle, die
er mit Vergnügen annahm, um sich an den Werken Raphael'S, sei¬
nes göttlichen Meisters, für die Verkennung seiner Zeitgenossen trösten
zu können. Die Frucht dieses Aufenthaltes in Rom war die Stra-
tonice, welche er im Auftrage des Herzogs von Orleans malte.
Bald darauf verließ JngreS abermals Rom und kehrte nach Frank¬
reich zurück, wo er seitdem von dem Herzog von Luynes beauftragt
worden ist, die Galerie des Schlosses Dampierre zu malen. Dem
Vernehmen nach wird ihn diese Arbeit mehrere Jahre lang beschäf¬
tigen.

Die Hauptschwäche unsers Künstlers besteht in dem schlechten
Colorit, welches sich vorzüglich in der Färbung des Fleisches und dem


Grenzboten 1844, l. Z4
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/261>, abgerufen am 22.12.2024.