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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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la, mich noch einmal umzuwenden und auf den eben Eintretenden
einen Blick zu werfen. Es war der Herr Rentier C., der glückliche
Familienvater, der "Engel seiner Frau", der Mann, der Anständig,
keit halber keine öffentlichen Locale besucht, der so edle, uneigennützige,
großmüthige Wohlthäter eines armen, verzweifelten, durch ihre reine
Liebe unglücklich gewordenen Weibes.




Nun aber drängte es mich, die Mutter und Therese aufzusu-
chen; ich hatte mir die Hausnummer genau gemerkt und ging gegen
Abend hin. Ich trat in ein ziemlich großes, aber niedriges und fin¬
steres Zimmer. Ein Mann in Hemdärmeln saß auf einem hölzernen
Stuhl und rauchte, eine Frau, wahrscheinlich die seinige, war eben
damit beschäftigt, Kartoffelstückchen in einen Tiegel zu schneiden. Auf
dem Fußboden saßen mehrere schmutzige Kinder, die einen betäuben¬
den Lärm machten. Oben am Fenster stand ein Bett, darin lag ein
entstelltes, schon halbtodtes weibliches Wesen, das Gesicht verzerrt,
die dürren, zitternden Knochenhände auf der dünnen Decke. Das
war Madame Thümmel. Vor dem Bette saß eine bleiche, abge¬
zehrte Hungergcstalt, auf ihrem Schooße einen etwa dreijährigen
Knaben, den sie immer an sich drückte und küßte. Das war die,,
muntere, lebenslustige Therese. Die Mutter, schon ganz stumpf und
abwesend, konnte sich meiner nicht mehr erinnern, Therese aber lä¬
chelte gleich, und es fuhr über ihre immer noch schönen Züge wie
ein freudiger Strahl der Erinnerung an eine bessere, glänzende Zeit.
Hier erfuhr ich auch, was mir Charlotte nur andeuten wollte. Das
Kind auf Theresens Schooße war das ihrige und der Sprößling ei¬
nes Verhältnisses mit Alfred. Sie trug es unter ihrem Herzen, als
er mit Charlotten heimlich abreiste. Dies ist die wahre Geschichte
dreier armen Berliner Mädchen, die es sich hatten einfallen lassen,
der freien Neigung ihres Herzens zu folgen.




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la, mich noch einmal umzuwenden und auf den eben Eintretenden
einen Blick zu werfen. Es war der Herr Rentier C., der glückliche
Familienvater, der „Engel seiner Frau", der Mann, der Anständig,
keit halber keine öffentlichen Locale besucht, der so edle, uneigennützige,
großmüthige Wohlthäter eines armen, verzweifelten, durch ihre reine
Liebe unglücklich gewordenen Weibes.




Nun aber drängte es mich, die Mutter und Therese aufzusu-
chen; ich hatte mir die Hausnummer genau gemerkt und ging gegen
Abend hin. Ich trat in ein ziemlich großes, aber niedriges und fin¬
steres Zimmer. Ein Mann in Hemdärmeln saß auf einem hölzernen
Stuhl und rauchte, eine Frau, wahrscheinlich die seinige, war eben
damit beschäftigt, Kartoffelstückchen in einen Tiegel zu schneiden. Auf
dem Fußboden saßen mehrere schmutzige Kinder, die einen betäuben¬
den Lärm machten. Oben am Fenster stand ein Bett, darin lag ein
entstelltes, schon halbtodtes weibliches Wesen, das Gesicht verzerrt,
die dürren, zitternden Knochenhände auf der dünnen Decke. Das
war Madame Thümmel. Vor dem Bette saß eine bleiche, abge¬
zehrte Hungergcstalt, auf ihrem Schooße einen etwa dreijährigen
Knaben, den sie immer an sich drückte und küßte. Das war die,,
muntere, lebenslustige Therese. Die Mutter, schon ganz stumpf und
abwesend, konnte sich meiner nicht mehr erinnern, Therese aber lä¬
chelte gleich, und es fuhr über ihre immer noch schönen Züge wie
ein freudiger Strahl der Erinnerung an eine bessere, glänzende Zeit.
Hier erfuhr ich auch, was mir Charlotte nur andeuten wollte. Das
Kind auf Theresens Schooße war das ihrige und der Sprößling ei¬
nes Verhältnisses mit Alfred. Sie trug es unter ihrem Herzen, als
er mit Charlotten heimlich abreiste. Dies ist die wahre Geschichte
dreier armen Berliner Mädchen, die es sich hatten einfallen lassen,
der freien Neigung ihres Herzens zu folgen.




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[0255] la, mich noch einmal umzuwenden und auf den eben Eintretenden einen Blick zu werfen. Es war der Herr Rentier C., der glückliche Familienvater, der „Engel seiner Frau", der Mann, der Anständig, keit halber keine öffentlichen Locale besucht, der so edle, uneigennützige, großmüthige Wohlthäter eines armen, verzweifelten, durch ihre reine Liebe unglücklich gewordenen Weibes. Nun aber drängte es mich, die Mutter und Therese aufzusu- chen; ich hatte mir die Hausnummer genau gemerkt und ging gegen Abend hin. Ich trat in ein ziemlich großes, aber niedriges und fin¬ steres Zimmer. Ein Mann in Hemdärmeln saß auf einem hölzernen Stuhl und rauchte, eine Frau, wahrscheinlich die seinige, war eben damit beschäftigt, Kartoffelstückchen in einen Tiegel zu schneiden. Auf dem Fußboden saßen mehrere schmutzige Kinder, die einen betäuben¬ den Lärm machten. Oben am Fenster stand ein Bett, darin lag ein entstelltes, schon halbtodtes weibliches Wesen, das Gesicht verzerrt, die dürren, zitternden Knochenhände auf der dünnen Decke. Das war Madame Thümmel. Vor dem Bette saß eine bleiche, abge¬ zehrte Hungergcstalt, auf ihrem Schooße einen etwa dreijährigen Knaben, den sie immer an sich drückte und küßte. Das war die,, muntere, lebenslustige Therese. Die Mutter, schon ganz stumpf und abwesend, konnte sich meiner nicht mehr erinnern, Therese aber lä¬ chelte gleich, und es fuhr über ihre immer noch schönen Züge wie ein freudiger Strahl der Erinnerung an eine bessere, glänzende Zeit. Hier erfuhr ich auch, was mir Charlotte nur andeuten wollte. Das Kind auf Theresens Schooße war das ihrige und der Sprößling ei¬ nes Verhältnisses mit Alfred. Sie trug es unter ihrem Herzen, als er mit Charlotten heimlich abreiste. Dies ist die wahre Geschichte dreier armen Berliner Mädchen, die es sich hatten einfallen lassen, der freien Neigung ihres Herzens zu folgen. 33"-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/255>, abgerufen am 26.06.2024.