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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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bei! an, die ich gewiß nicht mehr ertragen hatte, aber die Leute sahen
mich verwundert an und sagten, daß sie Mädchen, die so vornehm
aussähen, nicht brauchen könnten. Auch Augustens Bemühungen
waren fruchtlos, und sie wurde bald von der Polizei in das Arbeits¬
haus gebracht. Von da ist sie dorthin gewandert oder vielmehr ver¬
schachert worden, wo sie jetzt ist. Ich war bald dem fürchterlichsten
Elende Preis gegeben und lief, als ich endlich die Wohnung ver¬
lassen mußte, wieder einen ganzen Tag lang, obdachlos durch die
Straßen von Berlin, da traf ich -- nicht zu meinem Glücke -- den
reichen Herrn, der mich von Dresden hierher gefahren. Er erkannte
mich gleich wieder, obwohl ich, durch Hunger und Elend entstellt, in
diesem Augenblicke kaum noch wanken konnte. "Ich habe Sie schon
längst aufgesucht", sagte er, "um mich nach Ihnen zu erkundigen,
konnte Sie aber, trotz aller meiner Bemühungen, nirgends finden.
Ich danke dem Schicksale, das mich Ihnen heute entgegenführt, kom¬
men Sie nur mit mir, ich kann Ihnen helfen." Er reichte mir seinen
Arm und führte mich in ein großes Haus zu einer schon ältlichen,
etwas sehr umfangreichen und geputzten Dame, die uns herzlich em¬
pfing und auf seine Bitte, sie möchte mich ein Paar Tage bei sich
logiren, da sein Haus schon mit Gästen besetzt sei, mit Vergnügen
einging. Ich stärkte und erholte mich wieder etwas in den hellen
freundlichen Räumen und war schon freudig von dem Antrage der
Dame überrascht, ihre Wirthschaftsgchilsin zu werden, als mir durch
verschiedene Zufälle ihr Charakter klarer zu werden anfing. Eine
fürchterliche Angst ergriff mich, ich wollte bei Nacht heimlich entflie¬
hen. Wohin aber? Auf die Straße hinaus, um der Polizei in die
Hände zu fallen? Ich war gezwungen, Alles zu ertragen und konnte
nur Pläne machen, wie ich den schändlichen Ort bald verlassen könne.
Der Herr besuchte uns öfter, und seine anfangs schüchternen, leisen
Anträge fingen an zudringlicher zu werden; ich wies sie mit Verach¬
tung zurück. Da kündigte niir Madame Stelle und Wohnung und
so -- hier horte Charlotte auf, noch leichenblaß von der langen,
angreifenden Erzählung; wir hörten Fußtritte auf der Treppe. "Sie
dürfen nicht länger hier verweilen", sagte sie, indem sie schnell auf¬
stand und einen grünen Vorhang auseinanderzog, der eine Thüre
verdeckte, welche zu einer Hintertreppe führte. Ich folgte schweigend
dieser Pantomime. Doch konnte ich meine Begierde nicht unterdrük-


bei! an, die ich gewiß nicht mehr ertragen hatte, aber die Leute sahen
mich verwundert an und sagten, daß sie Mädchen, die so vornehm
aussähen, nicht brauchen könnten. Auch Augustens Bemühungen
waren fruchtlos, und sie wurde bald von der Polizei in das Arbeits¬
haus gebracht. Von da ist sie dorthin gewandert oder vielmehr ver¬
schachert worden, wo sie jetzt ist. Ich war bald dem fürchterlichsten
Elende Preis gegeben und lief, als ich endlich die Wohnung ver¬
lassen mußte, wieder einen ganzen Tag lang, obdachlos durch die
Straßen von Berlin, da traf ich — nicht zu meinem Glücke — den
reichen Herrn, der mich von Dresden hierher gefahren. Er erkannte
mich gleich wieder, obwohl ich, durch Hunger und Elend entstellt, in
diesem Augenblicke kaum noch wanken konnte. „Ich habe Sie schon
längst aufgesucht", sagte er, „um mich nach Ihnen zu erkundigen,
konnte Sie aber, trotz aller meiner Bemühungen, nirgends finden.
Ich danke dem Schicksale, das mich Ihnen heute entgegenführt, kom¬
men Sie nur mit mir, ich kann Ihnen helfen." Er reichte mir seinen
Arm und führte mich in ein großes Haus zu einer schon ältlichen,
etwas sehr umfangreichen und geputzten Dame, die uns herzlich em¬
pfing und auf seine Bitte, sie möchte mich ein Paar Tage bei sich
logiren, da sein Haus schon mit Gästen besetzt sei, mit Vergnügen
einging. Ich stärkte und erholte mich wieder etwas in den hellen
freundlichen Räumen und war schon freudig von dem Antrage der
Dame überrascht, ihre Wirthschaftsgchilsin zu werden, als mir durch
verschiedene Zufälle ihr Charakter klarer zu werden anfing. Eine
fürchterliche Angst ergriff mich, ich wollte bei Nacht heimlich entflie¬
hen. Wohin aber? Auf die Straße hinaus, um der Polizei in die
Hände zu fallen? Ich war gezwungen, Alles zu ertragen und konnte
nur Pläne machen, wie ich den schändlichen Ort bald verlassen könne.
Der Herr besuchte uns öfter, und seine anfangs schüchternen, leisen
Anträge fingen an zudringlicher zu werden; ich wies sie mit Verach¬
tung zurück. Da kündigte niir Madame Stelle und Wohnung und
so — hier horte Charlotte auf, noch leichenblaß von der langen,
angreifenden Erzählung; wir hörten Fußtritte auf der Treppe. „Sie
dürfen nicht länger hier verweilen", sagte sie, indem sie schnell auf¬
stand und einen grünen Vorhang auseinanderzog, der eine Thüre
verdeckte, welche zu einer Hintertreppe führte. Ich folgte schweigend
dieser Pantomime. Doch konnte ich meine Begierde nicht unterdrük-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/254>, abgerufen am 22.12.2024.