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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Thore abgesetzt und in einer Droschke hierher fahren lassen, ich wußte
weder seineu Namen, noch seine Wohnung, er hatte versprochen, mir
meine Sachen hierher zu schicken und ich mußte die fremden Leute,
die mich ganz verwundert ansahen, flehentlich bitten, sie nur in Em¬
pfang zu nehmen. Der Abend war hereingebrochen, und ich lief,
obdachlos und ohne Geld, wie eine Verzweifelte, Rasende, durch die
Straßen meiner Vaterstadt. So war ich wohl schon eine Stund"
planlos umhergeirrt und noch dazu von jungen und alten Lassen ver¬
folgt worden, als mir auf dem Schloßplatze ein junges Frauenzimmer
entgegenschritt, deren Gestalt mir schon von Weitem bekannt schien.
Ich traute anfangs meinen Augen nicht, sie war großer und schlan¬
ker geworden, aber sie war es, Auguste, meine jüngste Schwester.
Welch ein Wiedersehen! Wir lagen so lange laut schluchzend Mund
an Mund, daß die Vorübergehenden stehen blieben und einen Kreis
um uns bildeten. Wir mußten uns erst erholen, um weiter gehen
zu können. Auguste ging schweigend neben mir her und ich war so
betäubt, so zerrissen, daß ich weder fragen noch erzählen konnte. Ich
ließ mich mechanisch von ihr fortziehen und erwachte nach einigen
Stunden in einem freundlichen Zimmer. Vor dem Bett, in dem ich
lag, saß Auguste und weinte. "Wo ist der Vater, die Mutter und
Therese" rief ich, "sie wollen mich nicht sehen, sie verachten mich?"
Auguste seufzte wieder tief und schwieg; ich konnte sie kaum durch die
heftigsten Bitten bewegen, mir die traurige Antwort auf meine Fra¬
gen zu geben. Bald nachdem ich fort war, war mein Vater heftig
erkrankt. Dadurch geriet!) die Arbeit ins Stocken, und die bitterste
Noth trat ein. Mein Vater wurde in die Charitv gebracht, wo er
nach einigen Tagen starb. Wo sein Grab ist, weiß ich nicht. Mei¬
ner Mutter wurde nun, da der Wirth ihr Elend sah, die Wohnung
gekündigt. Meine Mutter mußte sich nun zum ersten Male an die
Armenverwaltung wenden, und es wurde ihr nach genauer Prüfung
der schrecklichen Verhältnisse monatlich ein Thaler bewilligt. In dieser
Zeit war es, wo sie mir die Gelder zurückschickte, die ich ihr heim¬
lich übersandt hatte. Was ich Ihnen jetzt noch erzählen könnte, ist
eine Reihe der fürchterlichsten Leiden, ein Gemisch von Unbarmher-
zigkeit, Treulosigkeit und Gemeinheit. Sie wissen, daß Auguste sehr
schön war, und ahnen vielleicht schon, daß ich sie allein in einem
meublirten Zimmer fand. War ich das Opfer eines Mannes gewor-


Thore abgesetzt und in einer Droschke hierher fahren lassen, ich wußte
weder seineu Namen, noch seine Wohnung, er hatte versprochen, mir
meine Sachen hierher zu schicken und ich mußte die fremden Leute,
die mich ganz verwundert ansahen, flehentlich bitten, sie nur in Em¬
pfang zu nehmen. Der Abend war hereingebrochen, und ich lief,
obdachlos und ohne Geld, wie eine Verzweifelte, Rasende, durch die
Straßen meiner Vaterstadt. So war ich wohl schon eine Stund»
planlos umhergeirrt und noch dazu von jungen und alten Lassen ver¬
folgt worden, als mir auf dem Schloßplatze ein junges Frauenzimmer
entgegenschritt, deren Gestalt mir schon von Weitem bekannt schien.
Ich traute anfangs meinen Augen nicht, sie war großer und schlan¬
ker geworden, aber sie war es, Auguste, meine jüngste Schwester.
Welch ein Wiedersehen! Wir lagen so lange laut schluchzend Mund
an Mund, daß die Vorübergehenden stehen blieben und einen Kreis
um uns bildeten. Wir mußten uns erst erholen, um weiter gehen
zu können. Auguste ging schweigend neben mir her und ich war so
betäubt, so zerrissen, daß ich weder fragen noch erzählen konnte. Ich
ließ mich mechanisch von ihr fortziehen und erwachte nach einigen
Stunden in einem freundlichen Zimmer. Vor dem Bett, in dem ich
lag, saß Auguste und weinte. „Wo ist der Vater, die Mutter und
Therese" rief ich, „sie wollen mich nicht sehen, sie verachten mich?"
Auguste seufzte wieder tief und schwieg; ich konnte sie kaum durch die
heftigsten Bitten bewegen, mir die traurige Antwort auf meine Fra¬
gen zu geben. Bald nachdem ich fort war, war mein Vater heftig
erkrankt. Dadurch geriet!) die Arbeit ins Stocken, und die bitterste
Noth trat ein. Mein Vater wurde in die Charitv gebracht, wo er
nach einigen Tagen starb. Wo sein Grab ist, weiß ich nicht. Mei¬
ner Mutter wurde nun, da der Wirth ihr Elend sah, die Wohnung
gekündigt. Meine Mutter mußte sich nun zum ersten Male an die
Armenverwaltung wenden, und es wurde ihr nach genauer Prüfung
der schrecklichen Verhältnisse monatlich ein Thaler bewilligt. In dieser
Zeit war es, wo sie mir die Gelder zurückschickte, die ich ihr heim¬
lich übersandt hatte. Was ich Ihnen jetzt noch erzählen könnte, ist
eine Reihe der fürchterlichsten Leiden, ein Gemisch von Unbarmher-
zigkeit, Treulosigkeit und Gemeinheit. Sie wissen, daß Auguste sehr
schön war, und ahnen vielleicht schon, daß ich sie allein in einem
meublirten Zimmer fand. War ich das Opfer eines Mannes gewor-


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[0252] Thore abgesetzt und in einer Droschke hierher fahren lassen, ich wußte weder seineu Namen, noch seine Wohnung, er hatte versprochen, mir meine Sachen hierher zu schicken und ich mußte die fremden Leute, die mich ganz verwundert ansahen, flehentlich bitten, sie nur in Em¬ pfang zu nehmen. Der Abend war hereingebrochen, und ich lief, obdachlos und ohne Geld, wie eine Verzweifelte, Rasende, durch die Straßen meiner Vaterstadt. So war ich wohl schon eine Stund» planlos umhergeirrt und noch dazu von jungen und alten Lassen ver¬ folgt worden, als mir auf dem Schloßplatze ein junges Frauenzimmer entgegenschritt, deren Gestalt mir schon von Weitem bekannt schien. Ich traute anfangs meinen Augen nicht, sie war großer und schlan¬ ker geworden, aber sie war es, Auguste, meine jüngste Schwester. Welch ein Wiedersehen! Wir lagen so lange laut schluchzend Mund an Mund, daß die Vorübergehenden stehen blieben und einen Kreis um uns bildeten. Wir mußten uns erst erholen, um weiter gehen zu können. Auguste ging schweigend neben mir her und ich war so betäubt, so zerrissen, daß ich weder fragen noch erzählen konnte. Ich ließ mich mechanisch von ihr fortziehen und erwachte nach einigen Stunden in einem freundlichen Zimmer. Vor dem Bett, in dem ich lag, saß Auguste und weinte. „Wo ist der Vater, die Mutter und Therese" rief ich, „sie wollen mich nicht sehen, sie verachten mich?" Auguste seufzte wieder tief und schwieg; ich konnte sie kaum durch die heftigsten Bitten bewegen, mir die traurige Antwort auf meine Fra¬ gen zu geben. Bald nachdem ich fort war, war mein Vater heftig erkrankt. Dadurch geriet!) die Arbeit ins Stocken, und die bitterste Noth trat ein. Mein Vater wurde in die Charitv gebracht, wo er nach einigen Tagen starb. Wo sein Grab ist, weiß ich nicht. Mei¬ ner Mutter wurde nun, da der Wirth ihr Elend sah, die Wohnung gekündigt. Meine Mutter mußte sich nun zum ersten Male an die Armenverwaltung wenden, und es wurde ihr nach genauer Prüfung der schrecklichen Verhältnisse monatlich ein Thaler bewilligt. In dieser Zeit war es, wo sie mir die Gelder zurückschickte, die ich ihr heim¬ lich übersandt hatte. Was ich Ihnen jetzt noch erzählen könnte, ist eine Reihe der fürchterlichsten Leiden, ein Gemisch von Unbarmher- zigkeit, Treulosigkeit und Gemeinheit. Sie wissen, daß Auguste sehr schön war, und ahnen vielleicht schon, daß ich sie allein in einem meublirten Zimmer fand. War ich das Opfer eines Mannes gewor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/252>, abgerufen am 26.06.2024.