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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Halm'schen Stücke das Urtheil spricht. -- Denn nun sollte Sam-
piero die verriegelten Thüren wieder öffnen und sprechen: Zieh hin,
mein theures Weib, Du bist frei. -- Die Zuschauer sollten sich zer¬
streuen, der Vorhang sollte fallen und die Tragödie, die sich so in
Nichts oder in sich selbst aufgelöst hat, sollte nicht wieder aufgeführt
werden. -- Vanina hat ja bewiesen, es seien die Faden nicht da,
an denen die tragischen Gewichte hängen, also könne die Uhr
nicht gehen; Vanina hat ja, wie ein scharfsinniger Kritiker dargethan,
daß alle natürlichen Antecedentien fehlen, um sie zu einem tragischen
Tode verurtheilen zu dürfen, und daß, sobald Sampiero seine Hand
wider sie erhebe, er ein gemeiner Mörder sei, der aus Blutdurst
mordet. So wird das ganze Stück ein Jntriguenspiel, dessen Wirr¬
nisse durch die strahlende Unschuld, durch die lebensvolle Beredsam"
keit eines Weibes aufs Glänzendste gelöst und gelichtet werden, und
wir haben ein Stück, wie "der Kaufmann von Venedig." Es thut
Einem dann nur Leid um das viele tragische Pathos der fünf Acte
und um die Aengstlichkeit, die die gedrückte, gewitterschwüle Stim¬
mung des Stückes eingeflößt hat.

Aber die Geschichte sagt: Vanina starb von der Hand ihres
Mannes und so muß die "Unglückselige" plötzlich losbrechen mit:
Was ist mir Corsica? Mich hat es stets elend gemacht u. dergl.
mehr, was der Patriot Corsica's nicht anhören kann, ihr also einen
Dolch in'ö Her-z stößt mit den Worten: Stirb und schweig. -- So
und durch den Umstand, daß unmittelbar nach der That der Bru¬
der der Gemordeten ankommt, um an Sampiero Gleiches mit Glei¬
chem zu vergelten, wird das Stück mit einer einzigen, unbedeutenden
Wendung -- eine Tragödie.

Aber, wird man fragen, warum wurden zu diesem Ende Erde
und Himmel' in Bewegung gesetzt, wozu braucht man da den Bö¬
sewicht, die Kinder, die Corsen, die Flucht und den ganzen Aufwand
von poetischer Prosa? Wir wissen, Vanina hat Corsica nie geliebt,
sie hätte sich auch zu jeder andern Zeit darüber äußern und ein
Mann wie Sampiero, der in einer Stunde, die ihm sein Weib als
rein, unschuldig, heldenmüthig darstellt, ihr den Dolch in'ö Herz
stößt, ein solcher Mann, meinen wir, hätte eben so leicht und
leichter in jedem andern, gleichgiltigen Momente sie erdolchen, zerrei¬
ßen, erdrosseln können, wie es eben einem solchen Manne gefällt.


Halm'schen Stücke das Urtheil spricht. — Denn nun sollte Sam-
piero die verriegelten Thüren wieder öffnen und sprechen: Zieh hin,
mein theures Weib, Du bist frei. — Die Zuschauer sollten sich zer¬
streuen, der Vorhang sollte fallen und die Tragödie, die sich so in
Nichts oder in sich selbst aufgelöst hat, sollte nicht wieder aufgeführt
werden. — Vanina hat ja bewiesen, es seien die Faden nicht da,
an denen die tragischen Gewichte hängen, also könne die Uhr
nicht gehen; Vanina hat ja, wie ein scharfsinniger Kritiker dargethan,
daß alle natürlichen Antecedentien fehlen, um sie zu einem tragischen
Tode verurtheilen zu dürfen, und daß, sobald Sampiero seine Hand
wider sie erhebe, er ein gemeiner Mörder sei, der aus Blutdurst
mordet. So wird das ganze Stück ein Jntriguenspiel, dessen Wirr¬
nisse durch die strahlende Unschuld, durch die lebensvolle Beredsam«
keit eines Weibes aufs Glänzendste gelöst und gelichtet werden, und
wir haben ein Stück, wie „der Kaufmann von Venedig." Es thut
Einem dann nur Leid um das viele tragische Pathos der fünf Acte
und um die Aengstlichkeit, die die gedrückte, gewitterschwüle Stim¬
mung des Stückes eingeflößt hat.

Aber die Geschichte sagt: Vanina starb von der Hand ihres
Mannes und so muß die „Unglückselige" plötzlich losbrechen mit:
Was ist mir Corsica? Mich hat es stets elend gemacht u. dergl.
mehr, was der Patriot Corsica's nicht anhören kann, ihr also einen
Dolch in'ö Her-z stößt mit den Worten: Stirb und schweig. — So
und durch den Umstand, daß unmittelbar nach der That der Bru¬
der der Gemordeten ankommt, um an Sampiero Gleiches mit Glei¬
chem zu vergelten, wird das Stück mit einer einzigen, unbedeutenden
Wendung — eine Tragödie.

Aber, wird man fragen, warum wurden zu diesem Ende Erde
und Himmel' in Bewegung gesetzt, wozu braucht man da den Bö¬
sewicht, die Kinder, die Corsen, die Flucht und den ganzen Aufwand
von poetischer Prosa? Wir wissen, Vanina hat Corsica nie geliebt,
sie hätte sich auch zu jeder andern Zeit darüber äußern und ein
Mann wie Sampiero, der in einer Stunde, die ihm sein Weib als
rein, unschuldig, heldenmüthig darstellt, ihr den Dolch in'ö Herz
stößt, ein solcher Mann, meinen wir, hätte eben so leicht und
leichter in jedem andern, gleichgiltigen Momente sie erdolchen, zerrei¬
ßen, erdrosseln können, wie es eben einem solchen Manne gefällt.


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[0200] Halm'schen Stücke das Urtheil spricht. — Denn nun sollte Sam- piero die verriegelten Thüren wieder öffnen und sprechen: Zieh hin, mein theures Weib, Du bist frei. — Die Zuschauer sollten sich zer¬ streuen, der Vorhang sollte fallen und die Tragödie, die sich so in Nichts oder in sich selbst aufgelöst hat, sollte nicht wieder aufgeführt werden. — Vanina hat ja bewiesen, es seien die Faden nicht da, an denen die tragischen Gewichte hängen, also könne die Uhr nicht gehen; Vanina hat ja, wie ein scharfsinniger Kritiker dargethan, daß alle natürlichen Antecedentien fehlen, um sie zu einem tragischen Tode verurtheilen zu dürfen, und daß, sobald Sampiero seine Hand wider sie erhebe, er ein gemeiner Mörder sei, der aus Blutdurst mordet. So wird das ganze Stück ein Jntriguenspiel, dessen Wirr¬ nisse durch die strahlende Unschuld, durch die lebensvolle Beredsam« keit eines Weibes aufs Glänzendste gelöst und gelichtet werden, und wir haben ein Stück, wie „der Kaufmann von Venedig." Es thut Einem dann nur Leid um das viele tragische Pathos der fünf Acte und um die Aengstlichkeit, die die gedrückte, gewitterschwüle Stim¬ mung des Stückes eingeflößt hat. Aber die Geschichte sagt: Vanina starb von der Hand ihres Mannes und so muß die „Unglückselige" plötzlich losbrechen mit: Was ist mir Corsica? Mich hat es stets elend gemacht u. dergl. mehr, was der Patriot Corsica's nicht anhören kann, ihr also einen Dolch in'ö Her-z stößt mit den Worten: Stirb und schweig. — So und durch den Umstand, daß unmittelbar nach der That der Bru¬ der der Gemordeten ankommt, um an Sampiero Gleiches mit Glei¬ chem zu vergelten, wird das Stück mit einer einzigen, unbedeutenden Wendung — eine Tragödie. Aber, wird man fragen, warum wurden zu diesem Ende Erde und Himmel' in Bewegung gesetzt, wozu braucht man da den Bö¬ sewicht, die Kinder, die Corsen, die Flucht und den ganzen Aufwand von poetischer Prosa? Wir wissen, Vanina hat Corsica nie geliebt, sie hätte sich auch zu jeder andern Zeit darüber äußern und ein Mann wie Sampiero, der in einer Stunde, die ihm sein Weib als rein, unschuldig, heldenmüthig darstellt, ihr den Dolch in'ö Herz stößt, ein solcher Mann, meinen wir, hätte eben so leicht und leichter in jedem andern, gleichgiltigen Momente sie erdolchen, zerrei¬ ßen, erdrosseln können, wie es eben einem solchen Manne gefällt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/200>, abgerufen am 22.12.2024.