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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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mcrkungen, eine von ganz frischem Datum betraf den Kronprinzen,
und ohne daran zu denken, ob ich Unrecht thäte, versagte ich mir
nicht, sie zu lesen. Frau von Varnhagen hatte kürzlich im französi¬
schen Theater ihren Platz ganz nahe der königlichen Loge gehabt, die
Physiognomie und Haltung des Kronprinzen waren ihr ungemein auf¬
gefallen, und das Ergebniß ihrer scharfen, während der ganzen Schau-
spicldauer fortgesetzten Beobachtung hatte sie hier niedergeschrieben,
ein sehr charakteristisches Urtheil, aber auch ein die Schreiben" cha-
rakterisirendes, denn es gab nur eine schlichte Wahrnehmung, aber
diese von so eingreifender und sicherer Art, daß sie mir nicht wieder
aus dem Sinn gekommen ist. In der späterhin erfolgten Ausgabe
ihres schriftlichen Nachlasses hab' ich dieses Urtheil über einen Prin¬
zen, der damals, wie noch jetzt, die Meinung außerordentlich beschäf¬
tigte, ungern vermißt.

Auf ein Geräusch, das ich vernahm, wandte ich mich von dem
Hefts schnell ab, indeß würde Frau von Varnhagen meine Verlegen--
heit gewiß noch bemerkt haben, wäre sie nicht beim Wiedereintreten
durch neue Gäste sogleich beschäftigt worden, die von der andern
Seite ihr schon entgegenkamen. Es war der Freiherr von Reden
mit seinen beiden Töchtern, hannöverscher Gesandte, ein munterer al¬
ter Herr, der an einem Krückstock langsam einherschritt, aber dafür
um so rascher und eifriger sprach; in der That war seine Redselig¬
keit unerschöpflich, aber zugleich so der Ausdruck eines überfließenden
Herzens, einer gutgemeinten Mittheilung, daß man ihn lieb gewann
und kaum lästig fand; auch war sein Sprechen wirklich lehrreich,
denn sein wunderbares Gedächtniß hegte die gründlichsten Geschichts¬
kenntnisse, und selbst die Stammbäume der regierenden Häuser, in
deren sämmtlichen Verzweigungen er mit seltenster Sicherheit auf-
und niederstieg, führten ihn öfters auf überraschende Gesichtspunkte
für herrschende Tagesfragen. Wie früher um das Kind, war Frau
von Varnhagen jetzt um den Alten sorglich bemüht, suchte mit zar¬
tester Aufmerksamkeit ihm Alles behaglich zu machen und dabei ihr
Bemühen möglichst unscheinbar zu halten, ohne Zweifel um ihn nicht
empfinden zu lassen, daß er so großer Sorgfalt bedürftig sei! Er em¬
pfand aber die liebevolle Begegnung und sah mit freundlichster Rüh¬
rung auf die wackere Wirthin, für die auch seine ältere Tochter die
wärmste Freuiwschaft zu fühlen schien. Diese Tochter war ein We-


mcrkungen, eine von ganz frischem Datum betraf den Kronprinzen,
und ohne daran zu denken, ob ich Unrecht thäte, versagte ich mir
nicht, sie zu lesen. Frau von Varnhagen hatte kürzlich im französi¬
schen Theater ihren Platz ganz nahe der königlichen Loge gehabt, die
Physiognomie und Haltung des Kronprinzen waren ihr ungemein auf¬
gefallen, und das Ergebniß ihrer scharfen, während der ganzen Schau-
spicldauer fortgesetzten Beobachtung hatte sie hier niedergeschrieben,
ein sehr charakteristisches Urtheil, aber auch ein die Schreiben» cha-
rakterisirendes, denn es gab nur eine schlichte Wahrnehmung, aber
diese von so eingreifender und sicherer Art, daß sie mir nicht wieder
aus dem Sinn gekommen ist. In der späterhin erfolgten Ausgabe
ihres schriftlichen Nachlasses hab' ich dieses Urtheil über einen Prin¬
zen, der damals, wie noch jetzt, die Meinung außerordentlich beschäf¬
tigte, ungern vermißt.

Auf ein Geräusch, das ich vernahm, wandte ich mich von dem
Hefts schnell ab, indeß würde Frau von Varnhagen meine Verlegen--
heit gewiß noch bemerkt haben, wäre sie nicht beim Wiedereintreten
durch neue Gäste sogleich beschäftigt worden, die von der andern
Seite ihr schon entgegenkamen. Es war der Freiherr von Reden
mit seinen beiden Töchtern, hannöverscher Gesandte, ein munterer al¬
ter Herr, der an einem Krückstock langsam einherschritt, aber dafür
um so rascher und eifriger sprach; in der That war seine Redselig¬
keit unerschöpflich, aber zugleich so der Ausdruck eines überfließenden
Herzens, einer gutgemeinten Mittheilung, daß man ihn lieb gewann
und kaum lästig fand; auch war sein Sprechen wirklich lehrreich,
denn sein wunderbares Gedächtniß hegte die gründlichsten Geschichts¬
kenntnisse, und selbst die Stammbäume der regierenden Häuser, in
deren sämmtlichen Verzweigungen er mit seltenster Sicherheit auf-
und niederstieg, führten ihn öfters auf überraschende Gesichtspunkte
für herrschende Tagesfragen. Wie früher um das Kind, war Frau
von Varnhagen jetzt um den Alten sorglich bemüht, suchte mit zar¬
tester Aufmerksamkeit ihm Alles behaglich zu machen und dabei ihr
Bemühen möglichst unscheinbar zu halten, ohne Zweifel um ihn nicht
empfinden zu lassen, daß er so großer Sorgfalt bedürftig sei! Er em¬
pfand aber die liebevolle Begegnung und sah mit freundlichster Rüh¬
rung auf die wackere Wirthin, für die auch seine ältere Tochter die
wärmste Freuiwschaft zu fühlen schien. Diese Tochter war ein We-


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[0181] mcrkungen, eine von ganz frischem Datum betraf den Kronprinzen, und ohne daran zu denken, ob ich Unrecht thäte, versagte ich mir nicht, sie zu lesen. Frau von Varnhagen hatte kürzlich im französi¬ schen Theater ihren Platz ganz nahe der königlichen Loge gehabt, die Physiognomie und Haltung des Kronprinzen waren ihr ungemein auf¬ gefallen, und das Ergebniß ihrer scharfen, während der ganzen Schau- spicldauer fortgesetzten Beobachtung hatte sie hier niedergeschrieben, ein sehr charakteristisches Urtheil, aber auch ein die Schreiben» cha- rakterisirendes, denn es gab nur eine schlichte Wahrnehmung, aber diese von so eingreifender und sicherer Art, daß sie mir nicht wieder aus dem Sinn gekommen ist. In der späterhin erfolgten Ausgabe ihres schriftlichen Nachlasses hab' ich dieses Urtheil über einen Prin¬ zen, der damals, wie noch jetzt, die Meinung außerordentlich beschäf¬ tigte, ungern vermißt. Auf ein Geräusch, das ich vernahm, wandte ich mich von dem Hefts schnell ab, indeß würde Frau von Varnhagen meine Verlegen-- heit gewiß noch bemerkt haben, wäre sie nicht beim Wiedereintreten durch neue Gäste sogleich beschäftigt worden, die von der andern Seite ihr schon entgegenkamen. Es war der Freiherr von Reden mit seinen beiden Töchtern, hannöverscher Gesandte, ein munterer al¬ ter Herr, der an einem Krückstock langsam einherschritt, aber dafür um so rascher und eifriger sprach; in der That war seine Redselig¬ keit unerschöpflich, aber zugleich so der Ausdruck eines überfließenden Herzens, einer gutgemeinten Mittheilung, daß man ihn lieb gewann und kaum lästig fand; auch war sein Sprechen wirklich lehrreich, denn sein wunderbares Gedächtniß hegte die gründlichsten Geschichts¬ kenntnisse, und selbst die Stammbäume der regierenden Häuser, in deren sämmtlichen Verzweigungen er mit seltenster Sicherheit auf- und niederstieg, führten ihn öfters auf überraschende Gesichtspunkte für herrschende Tagesfragen. Wie früher um das Kind, war Frau von Varnhagen jetzt um den Alten sorglich bemüht, suchte mit zar¬ tester Aufmerksamkeit ihm Alles behaglich zu machen und dabei ihr Bemühen möglichst unscheinbar zu halten, ohne Zweifel um ihn nicht empfinden zu lassen, daß er so großer Sorgfalt bedürftig sei! Er em¬ pfand aber die liebevolle Begegnung und sah mit freundlichster Rüh¬ rung auf die wackere Wirthin, für die auch seine ältere Tochter die wärmste Freuiwschaft zu fühlen schien. Diese Tochter war ein We-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/181>, abgerufen am 29.06.2024.