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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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von Varichagen sei noch ganz allein. Ein erstes Zimmer ließ durch
offene Flügelthüren in ein zweites blicken, wo ich sie an einem Tische
sitzen und lesen sah, während ein Kind an ihrer Seite eingeschlafen
lag. Ich stand einen Augenblick und sah mir das Bild an. Ernste
Gemüthsruhe und heiteres Wohlwollen waren der Ausdruck ihrer
Züge, die sich nicht belauscht ahnten; ihre kleine gedrungene Ge¬
stalt, ihr klares, feines Gesicht, trotz der Jahre und langwieriger
Kränklichkeit noch von bewundernswerther Frische, ihre feste und leichte
Haltung, Alles war in einer gewissen Uebereinstimmung, die meinen
Sinn lebhaft ansprach. Als sie meine Tritte hörte, schob sie den
Tisch etwas ab, wandte sich mir entgegen, auf das schlafende Kind
deutend, ich möchte verzeihen: sie habe nicht den Muth, das Glück
zu stören! Ich bat natürlich, dies ja nicht zü thun. Wir sprachen
dann das Nöthige von Frau von Helvig und ihren EinführungS-
zeilen, von meinem bisherigen Aufenthalt und seiner fernern Dauer.
Auf meine Frage, ob das Kind ihre Nichte sei? erwiederte sie; "Es
ist die Tochter meiner Nichte, aber ich lieb' es wie mein eigen Kind."
In ihrem Tone war dabei eine zärtliche Innigkeit, die mir zum Her¬
zen drang, ich fühlte die lebendige Wahrheit ihres einfachen Wortes.

Frau von Varnhagen sagte, ich sei ihr als ein Musikfreund
empfohlen, und freute sich, daß ein Paar schöne Stimmen sich zum
Abend bei ihr angesagt, auch werde vielleicht Fürst Radziwill kom¬
men, der jede Gelegenheit, Musik zu hören und zu üben, gerne wahr¬
nehme; er sei der größte Musikfreund, den sie je gesehen, er über¬
treffe darin weit den berühmten Fürsten Lobkowitz, der freilich größere
und lärmendere Mittel aufzubieten gehabt, aber Radziwill'ö Leiden¬
schaft sei ernster und tiefer, und seine Compositionen zu Göthe's Faust
reihten ihn den großen Meistern an. Wir sprachen nun vom Ge¬
sang, und namentlich von Liedern und deren Vortrag, wo denn Frau
von Varnhagen der einfachen großartigen Weise, wie Madame Mil¬
der deutsche Lieder zu singen pflegte, volle Gerechtigkeit widerfahren
ließ, aber hinzufügte, eigenthümlicher und rührender habe sie derglei¬
chen nie singen hören, als vor mehreren Jahren von einem jungen
Schwaben Grüneisen, der habe ihr ordentlich eine neue Sphäre auf¬
geschlossen, einen neuen Begriff von etwas bisher Unbekannten,
nämlich voll echt und schön deutschem Gesang, himmelweit verschie¬
den voll dem erkünstelten, hohlen, anspruchsvollen Wesen, daS auch


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von Varichagen sei noch ganz allein. Ein erstes Zimmer ließ durch
offene Flügelthüren in ein zweites blicken, wo ich sie an einem Tische
sitzen und lesen sah, während ein Kind an ihrer Seite eingeschlafen
lag. Ich stand einen Augenblick und sah mir das Bild an. Ernste
Gemüthsruhe und heiteres Wohlwollen waren der Ausdruck ihrer
Züge, die sich nicht belauscht ahnten; ihre kleine gedrungene Ge¬
stalt, ihr klares, feines Gesicht, trotz der Jahre und langwieriger
Kränklichkeit noch von bewundernswerther Frische, ihre feste und leichte
Haltung, Alles war in einer gewissen Uebereinstimmung, die meinen
Sinn lebhaft ansprach. Als sie meine Tritte hörte, schob sie den
Tisch etwas ab, wandte sich mir entgegen, auf das schlafende Kind
deutend, ich möchte verzeihen: sie habe nicht den Muth, das Glück
zu stören! Ich bat natürlich, dies ja nicht zü thun. Wir sprachen
dann das Nöthige von Frau von Helvig und ihren EinführungS-
zeilen, von meinem bisherigen Aufenthalt und seiner fernern Dauer.
Auf meine Frage, ob das Kind ihre Nichte sei? erwiederte sie; „Es
ist die Tochter meiner Nichte, aber ich lieb' es wie mein eigen Kind."
In ihrem Tone war dabei eine zärtliche Innigkeit, die mir zum Her¬
zen drang, ich fühlte die lebendige Wahrheit ihres einfachen Wortes.

Frau von Varnhagen sagte, ich sei ihr als ein Musikfreund
empfohlen, und freute sich, daß ein Paar schöne Stimmen sich zum
Abend bei ihr angesagt, auch werde vielleicht Fürst Radziwill kom¬
men, der jede Gelegenheit, Musik zu hören und zu üben, gerne wahr¬
nehme; er sei der größte Musikfreund, den sie je gesehen, er über¬
treffe darin weit den berühmten Fürsten Lobkowitz, der freilich größere
und lärmendere Mittel aufzubieten gehabt, aber Radziwill'ö Leiden¬
schaft sei ernster und tiefer, und seine Compositionen zu Göthe's Faust
reihten ihn den großen Meistern an. Wir sprachen nun vom Ge¬
sang, und namentlich von Liedern und deren Vortrag, wo denn Frau
von Varnhagen der einfachen großartigen Weise, wie Madame Mil¬
der deutsche Lieder zu singen pflegte, volle Gerechtigkeit widerfahren
ließ, aber hinzufügte, eigenthümlicher und rührender habe sie derglei¬
chen nie singen hören, als vor mehreren Jahren von einem jungen
Schwaben Grüneisen, der habe ihr ordentlich eine neue Sphäre auf¬
geschlossen, einen neuen Begriff von etwas bisher Unbekannten,
nämlich voll echt und schön deutschem Gesang, himmelweit verschie¬
den voll dem erkünstelten, hohlen, anspruchsvollen Wesen, daS auch


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[0179] von Varichagen sei noch ganz allein. Ein erstes Zimmer ließ durch offene Flügelthüren in ein zweites blicken, wo ich sie an einem Tische sitzen und lesen sah, während ein Kind an ihrer Seite eingeschlafen lag. Ich stand einen Augenblick und sah mir das Bild an. Ernste Gemüthsruhe und heiteres Wohlwollen waren der Ausdruck ihrer Züge, die sich nicht belauscht ahnten; ihre kleine gedrungene Ge¬ stalt, ihr klares, feines Gesicht, trotz der Jahre und langwieriger Kränklichkeit noch von bewundernswerther Frische, ihre feste und leichte Haltung, Alles war in einer gewissen Uebereinstimmung, die meinen Sinn lebhaft ansprach. Als sie meine Tritte hörte, schob sie den Tisch etwas ab, wandte sich mir entgegen, auf das schlafende Kind deutend, ich möchte verzeihen: sie habe nicht den Muth, das Glück zu stören! Ich bat natürlich, dies ja nicht zü thun. Wir sprachen dann das Nöthige von Frau von Helvig und ihren EinführungS- zeilen, von meinem bisherigen Aufenthalt und seiner fernern Dauer. Auf meine Frage, ob das Kind ihre Nichte sei? erwiederte sie; „Es ist die Tochter meiner Nichte, aber ich lieb' es wie mein eigen Kind." In ihrem Tone war dabei eine zärtliche Innigkeit, die mir zum Her¬ zen drang, ich fühlte die lebendige Wahrheit ihres einfachen Wortes. Frau von Varnhagen sagte, ich sei ihr als ein Musikfreund empfohlen, und freute sich, daß ein Paar schöne Stimmen sich zum Abend bei ihr angesagt, auch werde vielleicht Fürst Radziwill kom¬ men, der jede Gelegenheit, Musik zu hören und zu üben, gerne wahr¬ nehme; er sei der größte Musikfreund, den sie je gesehen, er über¬ treffe darin weit den berühmten Fürsten Lobkowitz, der freilich größere und lärmendere Mittel aufzubieten gehabt, aber Radziwill'ö Leiden¬ schaft sei ernster und tiefer, und seine Compositionen zu Göthe's Faust reihten ihn den großen Meistern an. Wir sprachen nun vom Ge¬ sang, und namentlich von Liedern und deren Vortrag, wo denn Frau von Varnhagen der einfachen großartigen Weise, wie Madame Mil¬ der deutsche Lieder zu singen pflegte, volle Gerechtigkeit widerfahren ließ, aber hinzufügte, eigenthümlicher und rührender habe sie derglei¬ chen nie singen hören, als vor mehreren Jahren von einem jungen Schwaben Grüneisen, der habe ihr ordentlich eine neue Sphäre auf¬ geschlossen, einen neuen Begriff von etwas bisher Unbekannten, nämlich voll echt und schön deutschem Gesang, himmelweit verschie¬ den voll dem erkünstelten, hohlen, anspruchsvollen Wesen, daS auch 23 »

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/179>, abgerufen am 28.09.2024.