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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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folgte ihr auf dem Fuße. Die Schifffahrt lag in der Nähe und
holte den Wohlstand bald aus der Ferne. Der Bürger und Hand¬
werker wurde reich und fühlte sich. Der Fürst lernte hier den Ar¬
beiter und Handelsmann früher achten als in andern Ländern. Das
Verhältniß zwischen Herrscher und Volk wurde schon in frühesten
Zeiten ein Gegenstand steter Bewachung von beiden Seiten. Bei
dem mindesten Eingriff des erstem erhob sich letzteres in Masse; der
Handwerker war zugleich Krieger, nett die Hellebarde, oder, wie die
alten Flamänder diese ihre Lcibwaffe humoristisch nannten, der (Zoo-
üenllu,x (Gutentag), stand stets in dem Winkel blank geputzt, und
viel rüstiger zum Kampf bereit, als das Gewehr eines modernen
Nationalgardisten. Nach mancher bösen Nacht, wo die Gemeinden,
Zünfte und Gildmleute über die neue Steuer stürmisch berathen hat¬
ten, standen diese Lanzen vor dem Schlosse der Herzoge, Grafen und
Bischöfe von Flandern, Brabant, Hennegau und Lüttich und wünsch¬
ten mit durchdringender Stimme ihren "Zooden"^. Der Geist der
Opposition, die Gewohnheit der Revolte incarnirte sich. Diese "har¬
ten Kopfe von Flandern," wie sie Karl V. nannte, dieses "böse Blut
von Lüttich," wie Karl der Kühne sich ausdrückte, paßten recht gut
zusammen. Diese lebendige und oft sogar wilde Freiheitsliebe ist bei
beiden Stämmen ein Grundzug geworden, und was braucht eS bei
politischen Verbindungen mehr als Aehnlichkeit der politischen Volks-
stimmung? Dies ist es, was Flamänder und Wallonen, trotz der
Verschiedenheit der Racen, der physischen und geistigen Anlage, zu
Einem Volke gemacht und ihnen gewisse gemeinschaftliche Eigenthüm¬
lichkeiten aufgeprägt hat, die man fast Nationalcharakter nennen dürfte.
Der Belgier, Flamänder wie Wallone, ist enthusiastisch für sein Land,
eifersüchtig auf seine Freiheit und darum Patriot. Seit den ältesten
Zeiten gewohnt, seine Gemeinde-, Provinzial- und Landesangelegen-
heiten selbst zu besorgen und überall sein Wort mitzusprechen, hat
sich bei ihm ein Grad von Offenherzigkeit herausgebildet, der jedem
Fremden auffallen muß. Nirgends, selbst in Frankreich nicht, hört
man über politische Angelegenheiten so laut und unverhohlen sprechen,
als in Belgien. Dies erstreckt sich sogar auf die Staatsmänner;
zur Zeit der Londoner Protokolle waren die Diplomaten nicht wenig
in Verlegenheit, als sie ihre heimlichen Vorschläge und Pläne plötz¬
lich in den belgischen Kammern laut vor den Ohren aller Welt ver-


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folgte ihr auf dem Fuße. Die Schifffahrt lag in der Nähe und
holte den Wohlstand bald aus der Ferne. Der Bürger und Hand¬
werker wurde reich und fühlte sich. Der Fürst lernte hier den Ar¬
beiter und Handelsmann früher achten als in andern Ländern. Das
Verhältniß zwischen Herrscher und Volk wurde schon in frühesten
Zeiten ein Gegenstand steter Bewachung von beiden Seiten. Bei
dem mindesten Eingriff des erstem erhob sich letzteres in Masse; der
Handwerker war zugleich Krieger, nett die Hellebarde, oder, wie die
alten Flamänder diese ihre Lcibwaffe humoristisch nannten, der (Zoo-
üenllu,x (Gutentag), stand stets in dem Winkel blank geputzt, und
viel rüstiger zum Kampf bereit, als das Gewehr eines modernen
Nationalgardisten. Nach mancher bösen Nacht, wo die Gemeinden,
Zünfte und Gildmleute über die neue Steuer stürmisch berathen hat¬
ten, standen diese Lanzen vor dem Schlosse der Herzoge, Grafen und
Bischöfe von Flandern, Brabant, Hennegau und Lüttich und wünsch¬
ten mit durchdringender Stimme ihren «Zooden«^. Der Geist der
Opposition, die Gewohnheit der Revolte incarnirte sich. Diese „har¬
ten Kopfe von Flandern," wie sie Karl V. nannte, dieses „böse Blut
von Lüttich," wie Karl der Kühne sich ausdrückte, paßten recht gut
zusammen. Diese lebendige und oft sogar wilde Freiheitsliebe ist bei
beiden Stämmen ein Grundzug geworden, und was braucht eS bei
politischen Verbindungen mehr als Aehnlichkeit der politischen Volks-
stimmung? Dies ist es, was Flamänder und Wallonen, trotz der
Verschiedenheit der Racen, der physischen und geistigen Anlage, zu
Einem Volke gemacht und ihnen gewisse gemeinschaftliche Eigenthüm¬
lichkeiten aufgeprägt hat, die man fast Nationalcharakter nennen dürfte.
Der Belgier, Flamänder wie Wallone, ist enthusiastisch für sein Land,
eifersüchtig auf seine Freiheit und darum Patriot. Seit den ältesten
Zeiten gewohnt, seine Gemeinde-, Provinzial- und Landesangelegen-
heiten selbst zu besorgen und überall sein Wort mitzusprechen, hat
sich bei ihm ein Grad von Offenherzigkeit herausgebildet, der jedem
Fremden auffallen muß. Nirgends, selbst in Frankreich nicht, hört
man über politische Angelegenheiten so laut und unverhohlen sprechen,
als in Belgien. Dies erstreckt sich sogar auf die Staatsmänner;
zur Zeit der Londoner Protokolle waren die Diplomaten nicht wenig
in Verlegenheit, als sie ihre heimlichen Vorschläge und Pläne plötz¬
lich in den belgischen Kammern laut vor den Ohren aller Welt ver-


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[0159] folgte ihr auf dem Fuße. Die Schifffahrt lag in der Nähe und holte den Wohlstand bald aus der Ferne. Der Bürger und Hand¬ werker wurde reich und fühlte sich. Der Fürst lernte hier den Ar¬ beiter und Handelsmann früher achten als in andern Ländern. Das Verhältniß zwischen Herrscher und Volk wurde schon in frühesten Zeiten ein Gegenstand steter Bewachung von beiden Seiten. Bei dem mindesten Eingriff des erstem erhob sich letzteres in Masse; der Handwerker war zugleich Krieger, nett die Hellebarde, oder, wie die alten Flamänder diese ihre Lcibwaffe humoristisch nannten, der (Zoo- üenllu,x (Gutentag), stand stets in dem Winkel blank geputzt, und viel rüstiger zum Kampf bereit, als das Gewehr eines modernen Nationalgardisten. Nach mancher bösen Nacht, wo die Gemeinden, Zünfte und Gildmleute über die neue Steuer stürmisch berathen hat¬ ten, standen diese Lanzen vor dem Schlosse der Herzoge, Grafen und Bischöfe von Flandern, Brabant, Hennegau und Lüttich und wünsch¬ ten mit durchdringender Stimme ihren «Zooden«^. Der Geist der Opposition, die Gewohnheit der Revolte incarnirte sich. Diese „har¬ ten Kopfe von Flandern," wie sie Karl V. nannte, dieses „böse Blut von Lüttich," wie Karl der Kühne sich ausdrückte, paßten recht gut zusammen. Diese lebendige und oft sogar wilde Freiheitsliebe ist bei beiden Stämmen ein Grundzug geworden, und was braucht eS bei politischen Verbindungen mehr als Aehnlichkeit der politischen Volks- stimmung? Dies ist es, was Flamänder und Wallonen, trotz der Verschiedenheit der Racen, der physischen und geistigen Anlage, zu Einem Volke gemacht und ihnen gewisse gemeinschaftliche Eigenthüm¬ lichkeiten aufgeprägt hat, die man fast Nationalcharakter nennen dürfte. Der Belgier, Flamänder wie Wallone, ist enthusiastisch für sein Land, eifersüchtig auf seine Freiheit und darum Patriot. Seit den ältesten Zeiten gewohnt, seine Gemeinde-, Provinzial- und Landesangelegen- heiten selbst zu besorgen und überall sein Wort mitzusprechen, hat sich bei ihm ein Grad von Offenherzigkeit herausgebildet, der jedem Fremden auffallen muß. Nirgends, selbst in Frankreich nicht, hört man über politische Angelegenheiten so laut und unverhohlen sprechen, als in Belgien. Dies erstreckt sich sogar auf die Staatsmänner; zur Zeit der Londoner Protokolle waren die Diplomaten nicht wenig in Verlegenheit, als sie ihre heimlichen Vorschläge und Pläne plötz¬ lich in den belgischen Kammern laut vor den Ohren aller Welt ver- 20»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/159>, abgerufen am 29.06.2024.