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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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geblieben, lag vielleicht in den amtlichen Verhältnissen, wir wollen
vies nicht untersuchen: aber man hätte diese leere Stätte dann
wenigstens durch den Klang anderer Namen ausfüllen sollen
DaS ist nie geschehen. Während man in Kassel an Manoeuvre und
Verbesserung der Uniformen dachte, wandten die Wissenschaften ihrem
alten Sitz den Rücken. Die verlassenen Lehrstühle wurden durch
junge Docenten besetzt, die -- wenig Ansprüche machen. Dazu
kommt, was in kleinern Staaten vorzugsweise der Fall ist, daß
kleinliche Rücksichten oft bei Anstellung und Nichtanstellung vorwal¬
ten, und in Kurhessen konnte man in neuerer Zeit mehrfach bemerken,
welches treue Gedächtniß man für die politischen Jugendsünden An¬
derer hat. Die jüngere Generation bildet oder formt sich vielmehr
ganz nach ihrem nahen Vorbild, da sie von ihm am meisten erwar¬
tet. Dieser Zirkel, in dem sich das geistig-sociale Leben Marburgs
bewegt, wird noch lange bestehen, vielleicht daß zuweilen ein festerer
Kern aus der Kette sich löst und in die Feine verpflanzt wird, aber
die Kette wird deshalb doch bleiben. Herzschneidend aber ist es,
wenn man den wehmüthigen Blick auf die Vergangenheit richtet und
aus dem plötzlichen raschen Verfall der ehrwürdigen Philippina auf
eine traurige Zukunft schließen muß. Betrachtet man das nahe gelegene
Gießen, mit welchem Marburg schon vereint worden, welcher rege
Geist herrscht dort, in der kleinen Universitätsstadt, die kaum eine
Geschichte besitzt, im Vergleich mit dem alten namhaften Marburg?
Gießen zählt über 6tel) Studirende, darunter selbst Amerikaner,
Marburg selten 30V, darunter nur Inländer und Waldecker, deren
Landesuniversitüt es ist. Es war mehrfach schon das Gerücht ver¬
breitet, daß Marburg abermals mit Gießen vereint werden sollte,
und wir wünschen gewiß von aufrichtigem Herzen, daß es sich nie
bestätigen möge: aber was kann der Fortschritt einer Hochschule
sein, die von der Negierung mit Gleichgiltigkeit betrachtet und von
ihren Lehrern nur zu Zwecken des äußern Lebens benutzt wird?

Was zunächst die Philosophie betrifft, so ist von der eigent¬
lichen Wissenschaft der Philosophie keine Rede. Professor Hildebrand.
ein aus Breslau berufener Docent, entspricht weder den Erwartun¬
gen einer Partei, welche in ihm nur den früher polizeilich überwachten
Mann sieht, noch scheint er ganz das Vertrauen einer höhern Einsicht
errungen zu haben, welche ihn blos auf Verwendung deö ehemaligen


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geblieben, lag vielleicht in den amtlichen Verhältnissen, wir wollen
vies nicht untersuchen: aber man hätte diese leere Stätte dann
wenigstens durch den Klang anderer Namen ausfüllen sollen
DaS ist nie geschehen. Während man in Kassel an Manoeuvre und
Verbesserung der Uniformen dachte, wandten die Wissenschaften ihrem
alten Sitz den Rücken. Die verlassenen Lehrstühle wurden durch
junge Docenten besetzt, die — wenig Ansprüche machen. Dazu
kommt, was in kleinern Staaten vorzugsweise der Fall ist, daß
kleinliche Rücksichten oft bei Anstellung und Nichtanstellung vorwal¬
ten, und in Kurhessen konnte man in neuerer Zeit mehrfach bemerken,
welches treue Gedächtniß man für die politischen Jugendsünden An¬
derer hat. Die jüngere Generation bildet oder formt sich vielmehr
ganz nach ihrem nahen Vorbild, da sie von ihm am meisten erwar¬
tet. Dieser Zirkel, in dem sich das geistig-sociale Leben Marburgs
bewegt, wird noch lange bestehen, vielleicht daß zuweilen ein festerer
Kern aus der Kette sich löst und in die Feine verpflanzt wird, aber
die Kette wird deshalb doch bleiben. Herzschneidend aber ist es,
wenn man den wehmüthigen Blick auf die Vergangenheit richtet und
aus dem plötzlichen raschen Verfall der ehrwürdigen Philippina auf
eine traurige Zukunft schließen muß. Betrachtet man das nahe gelegene
Gießen, mit welchem Marburg schon vereint worden, welcher rege
Geist herrscht dort, in der kleinen Universitätsstadt, die kaum eine
Geschichte besitzt, im Vergleich mit dem alten namhaften Marburg?
Gießen zählt über 6tel) Studirende, darunter selbst Amerikaner,
Marburg selten 30V, darunter nur Inländer und Waldecker, deren
Landesuniversitüt es ist. Es war mehrfach schon das Gerücht ver¬
breitet, daß Marburg abermals mit Gießen vereint werden sollte,
und wir wünschen gewiß von aufrichtigem Herzen, daß es sich nie
bestätigen möge: aber was kann der Fortschritt einer Hochschule
sein, die von der Negierung mit Gleichgiltigkeit betrachtet und von
ihren Lehrern nur zu Zwecken des äußern Lebens benutzt wird?

Was zunächst die Philosophie betrifft, so ist von der eigent¬
lichen Wissenschaft der Philosophie keine Rede. Professor Hildebrand.
ein aus Breslau berufener Docent, entspricht weder den Erwartun¬
gen einer Partei, welche in ihm nur den früher polizeilich überwachten
Mann sieht, noch scheint er ganz das Vertrauen einer höhern Einsicht
errungen zu haben, welche ihn blos auf Verwendung deö ehemaligen


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[0151] geblieben, lag vielleicht in den amtlichen Verhältnissen, wir wollen vies nicht untersuchen: aber man hätte diese leere Stätte dann wenigstens durch den Klang anderer Namen ausfüllen sollen DaS ist nie geschehen. Während man in Kassel an Manoeuvre und Verbesserung der Uniformen dachte, wandten die Wissenschaften ihrem alten Sitz den Rücken. Die verlassenen Lehrstühle wurden durch junge Docenten besetzt, die — wenig Ansprüche machen. Dazu kommt, was in kleinern Staaten vorzugsweise der Fall ist, daß kleinliche Rücksichten oft bei Anstellung und Nichtanstellung vorwal¬ ten, und in Kurhessen konnte man in neuerer Zeit mehrfach bemerken, welches treue Gedächtniß man für die politischen Jugendsünden An¬ derer hat. Die jüngere Generation bildet oder formt sich vielmehr ganz nach ihrem nahen Vorbild, da sie von ihm am meisten erwar¬ tet. Dieser Zirkel, in dem sich das geistig-sociale Leben Marburgs bewegt, wird noch lange bestehen, vielleicht daß zuweilen ein festerer Kern aus der Kette sich löst und in die Feine verpflanzt wird, aber die Kette wird deshalb doch bleiben. Herzschneidend aber ist es, wenn man den wehmüthigen Blick auf die Vergangenheit richtet und aus dem plötzlichen raschen Verfall der ehrwürdigen Philippina auf eine traurige Zukunft schließen muß. Betrachtet man das nahe gelegene Gießen, mit welchem Marburg schon vereint worden, welcher rege Geist herrscht dort, in der kleinen Universitätsstadt, die kaum eine Geschichte besitzt, im Vergleich mit dem alten namhaften Marburg? Gießen zählt über 6tel) Studirende, darunter selbst Amerikaner, Marburg selten 30V, darunter nur Inländer und Waldecker, deren Landesuniversitüt es ist. Es war mehrfach schon das Gerücht ver¬ breitet, daß Marburg abermals mit Gießen vereint werden sollte, und wir wünschen gewiß von aufrichtigem Herzen, daß es sich nie bestätigen möge: aber was kann der Fortschritt einer Hochschule sein, die von der Negierung mit Gleichgiltigkeit betrachtet und von ihren Lehrern nur zu Zwecken des äußern Lebens benutzt wird? Was zunächst die Philosophie betrifft, so ist von der eigent¬ lichen Wissenschaft der Philosophie keine Rede. Professor Hildebrand. ein aus Breslau berufener Docent, entspricht weder den Erwartun¬ gen einer Partei, welche in ihm nur den früher polizeilich überwachten Mann sieht, noch scheint er ganz das Vertrauen einer höhern Einsicht errungen zu haben, welche ihn blos auf Verwendung deö ehemaligen 19 »

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/151>, abgerufen am 29.06.2024.