Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

Anlauf, verläuft aber bis in's Kindische und Sinnlose. In solchen
Ertremen stürzen sich Gutzkow's Erfindungen hin und her. "Je
grausamer," sagt Hebbel, "desto besser." Hat Hebbel für das poetisch
Werthvolle, das menschlich Wahre so "venig Sinn, wie für das dich¬
terisch Häßliche, menschlich oder gesellschaftlich Schiefe und Unmögliche?
Hebbel sucht blos nach, was ein Product beweisen will. DerTicck-
sche Magister Ubique in der "Vogelscheuche" beweist als Cicerone
auf einer Gemäldeausstellung auch an einem Wirthöhauöschilde die
tiefsinnige Idee eines idyllischen Stilllebens! Von Gutzkow's "weißem
Blatt" spricht Hebbel nicht. Ich weiß nicht, was er an diesem
Stücke nachgewiesen hätte. Ich meines Theils kann an diesem, in
den ersten zwei Acten vortrefflich gearbeiteten Drama nur bedauern,
daß eS sich um eine Grille dreht, wie sie im wirklichen Leben unter
Menschen niemals von solchem Gewicht ist, als der Autor hier
nimmt und uns zumuthet, sie dafür ebenfalls zu nehmen, damit sein
Stück nicht die Angel und den Hebel verliere. Man kann nicht mehr
Beruf zum modernen Drama haben als Gutzkow. Aber eigensinnige
Zumuthungen, mit denen er seine Figuren und sein Publicum herum-
quäle, sind nirgends störender als im Drama. Er weiß selbst darum,
daß das bürgerliche Schauspiel am wenigsten solche aus Utopien
herangezogene Amiahmen duldet; er weiß darum, sein Wissen,
sagt' ich, ist schärfer als sein Talent. -- Nachschrift. Gutzkow's
"Zopf und Schwert" ging gestern hier zum ersten Mal über die
Bühne. Das neue Theaterjahr wurde in Dresden damit begrüßt.
Es konnte nicht glücklicher eröffnet werden. Auch hat Gutzkow wohl
nichts Glücklicheres geschaffen. Er greift, wo er rühren will, zu fal¬
schen Mitteln. Hier aber, wo er für die Waffen seines Scharfsinns
den Schauplatz fand, bewegt er sich wie in seiner eignen Welt.
Dies dramatische Zeitgemälde, wie er sein neues Erzeugnis) nennt,
ist ein höchst gelungenes geistvolles Spiel des Witzes und der Sa^
tyre, eben so pointenreich in den Einfällen, als durch die rasche
Folge pikanter Gruppen und Scenen effectvoll. Daß manche saty¬
rische Charakteristik an die Posse streift, wolle Niemand rügen, der
das Bedürfniß des heutigen Publicums nach starker Würze, wo sie
erlaubt ist, kennt. Die Intrigue des Stoffes ist sehr einfach, aber sie
hält die belebten Zeitbilder in ihrer raschen bunten Folge hinlänglich
fest. In der Erfindung ist hier Nichts erkünstelt, Gutzkow ist hier


Anlauf, verläuft aber bis in's Kindische und Sinnlose. In solchen
Ertremen stürzen sich Gutzkow's Erfindungen hin und her. „Je
grausamer," sagt Hebbel, „desto besser." Hat Hebbel für das poetisch
Werthvolle, das menschlich Wahre so »venig Sinn, wie für das dich¬
terisch Häßliche, menschlich oder gesellschaftlich Schiefe und Unmögliche?
Hebbel sucht blos nach, was ein Product beweisen will. DerTicck-
sche Magister Ubique in der „Vogelscheuche" beweist als Cicerone
auf einer Gemäldeausstellung auch an einem Wirthöhauöschilde die
tiefsinnige Idee eines idyllischen Stilllebens! Von Gutzkow's „weißem
Blatt" spricht Hebbel nicht. Ich weiß nicht, was er an diesem
Stücke nachgewiesen hätte. Ich meines Theils kann an diesem, in
den ersten zwei Acten vortrefflich gearbeiteten Drama nur bedauern,
daß eS sich um eine Grille dreht, wie sie im wirklichen Leben unter
Menschen niemals von solchem Gewicht ist, als der Autor hier
nimmt und uns zumuthet, sie dafür ebenfalls zu nehmen, damit sein
Stück nicht die Angel und den Hebel verliere. Man kann nicht mehr
Beruf zum modernen Drama haben als Gutzkow. Aber eigensinnige
Zumuthungen, mit denen er seine Figuren und sein Publicum herum-
quäle, sind nirgends störender als im Drama. Er weiß selbst darum,
daß das bürgerliche Schauspiel am wenigsten solche aus Utopien
herangezogene Amiahmen duldet; er weiß darum, sein Wissen,
sagt' ich, ist schärfer als sein Talent. — Nachschrift. Gutzkow's
„Zopf und Schwert" ging gestern hier zum ersten Mal über die
Bühne. Das neue Theaterjahr wurde in Dresden damit begrüßt.
Es konnte nicht glücklicher eröffnet werden. Auch hat Gutzkow wohl
nichts Glücklicheres geschaffen. Er greift, wo er rühren will, zu fal¬
schen Mitteln. Hier aber, wo er für die Waffen seines Scharfsinns
den Schauplatz fand, bewegt er sich wie in seiner eignen Welt.
Dies dramatische Zeitgemälde, wie er sein neues Erzeugnis) nennt,
ist ein höchst gelungenes geistvolles Spiel des Witzes und der Sa^
tyre, eben so pointenreich in den Einfällen, als durch die rasche
Folge pikanter Gruppen und Scenen effectvoll. Daß manche saty¬
rische Charakteristik an die Posse streift, wolle Niemand rügen, der
das Bedürfniß des heutigen Publicums nach starker Würze, wo sie
erlaubt ist, kennt. Die Intrigue des Stoffes ist sehr einfach, aber sie
hält die belebten Zeitbilder in ihrer raschen bunten Folge hinlänglich
fest. In der Erfindung ist hier Nichts erkünstelt, Gutzkow ist hier


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0128" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/179841"/>
          <p xml:id="ID_362" prev="#ID_361" next="#ID_363"> Anlauf, verläuft aber bis in's Kindische und Sinnlose. In solchen<lb/>
Ertremen stürzen sich Gutzkow's Erfindungen hin und her. &#x201E;Je<lb/>
grausamer," sagt Hebbel, &#x201E;desto besser." Hat Hebbel für das poetisch<lb/>
Werthvolle, das menschlich Wahre so »venig Sinn, wie für das dich¬<lb/>
terisch Häßliche, menschlich oder gesellschaftlich Schiefe und Unmögliche?<lb/>
Hebbel sucht blos nach, was ein Product beweisen will. DerTicck-<lb/>
sche Magister Ubique in der &#x201E;Vogelscheuche" beweist als Cicerone<lb/>
auf einer Gemäldeausstellung auch an einem Wirthöhauöschilde die<lb/>
tiefsinnige Idee eines idyllischen Stilllebens! Von Gutzkow's &#x201E;weißem<lb/>
Blatt" spricht Hebbel nicht. Ich weiß nicht, was er an diesem<lb/>
Stücke nachgewiesen hätte. Ich meines Theils kann an diesem, in<lb/>
den ersten zwei Acten vortrefflich gearbeiteten Drama nur bedauern,<lb/>
daß eS sich um eine Grille dreht, wie sie im wirklichen Leben unter<lb/>
Menschen niemals von solchem Gewicht ist, als der Autor hier<lb/>
nimmt und uns zumuthet, sie dafür ebenfalls zu nehmen, damit sein<lb/>
Stück nicht die Angel und den Hebel verliere. Man kann nicht mehr<lb/>
Beruf zum modernen Drama haben als Gutzkow. Aber eigensinnige<lb/>
Zumuthungen, mit denen er seine Figuren und sein Publicum herum-<lb/>
quäle, sind nirgends störender als im Drama. Er weiß selbst darum,<lb/>
daß das bürgerliche Schauspiel am wenigsten solche aus Utopien<lb/>
herangezogene Amiahmen duldet; er weiß darum, sein Wissen,<lb/>
sagt' ich, ist schärfer als sein Talent. &#x2014; Nachschrift. Gutzkow's<lb/>
&#x201E;Zopf und Schwert" ging gestern hier zum ersten Mal über die<lb/>
Bühne. Das neue Theaterjahr wurde in Dresden damit begrüßt.<lb/>
Es konnte nicht glücklicher eröffnet werden. Auch hat Gutzkow wohl<lb/>
nichts Glücklicheres geschaffen. Er greift, wo er rühren will, zu fal¬<lb/>
schen Mitteln. Hier aber, wo er für die Waffen seines Scharfsinns<lb/>
den Schauplatz fand, bewegt er sich wie in seiner eignen Welt.<lb/>
Dies dramatische Zeitgemälde, wie er sein neues Erzeugnis) nennt,<lb/>
ist ein höchst gelungenes geistvolles Spiel des Witzes und der Sa^<lb/>
tyre, eben so pointenreich in den Einfällen, als durch die rasche<lb/>
Folge pikanter Gruppen und Scenen effectvoll. Daß manche saty¬<lb/>
rische Charakteristik an die Posse streift, wolle Niemand rügen, der<lb/>
das Bedürfniß des heutigen Publicums nach starker Würze, wo sie<lb/>
erlaubt ist, kennt. Die Intrigue des Stoffes ist sehr einfach, aber sie<lb/>
hält die belebten Zeitbilder in ihrer raschen bunten Folge hinlänglich<lb/>
fest. In der Erfindung ist hier Nichts erkünstelt, Gutzkow ist hier</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0128] Anlauf, verläuft aber bis in's Kindische und Sinnlose. In solchen Ertremen stürzen sich Gutzkow's Erfindungen hin und her. „Je grausamer," sagt Hebbel, „desto besser." Hat Hebbel für das poetisch Werthvolle, das menschlich Wahre so »venig Sinn, wie für das dich¬ terisch Häßliche, menschlich oder gesellschaftlich Schiefe und Unmögliche? Hebbel sucht blos nach, was ein Product beweisen will. DerTicck- sche Magister Ubique in der „Vogelscheuche" beweist als Cicerone auf einer Gemäldeausstellung auch an einem Wirthöhauöschilde die tiefsinnige Idee eines idyllischen Stilllebens! Von Gutzkow's „weißem Blatt" spricht Hebbel nicht. Ich weiß nicht, was er an diesem Stücke nachgewiesen hätte. Ich meines Theils kann an diesem, in den ersten zwei Acten vortrefflich gearbeiteten Drama nur bedauern, daß eS sich um eine Grille dreht, wie sie im wirklichen Leben unter Menschen niemals von solchem Gewicht ist, als der Autor hier nimmt und uns zumuthet, sie dafür ebenfalls zu nehmen, damit sein Stück nicht die Angel und den Hebel verliere. Man kann nicht mehr Beruf zum modernen Drama haben als Gutzkow. Aber eigensinnige Zumuthungen, mit denen er seine Figuren und sein Publicum herum- quäle, sind nirgends störender als im Drama. Er weiß selbst darum, daß das bürgerliche Schauspiel am wenigsten solche aus Utopien herangezogene Amiahmen duldet; er weiß darum, sein Wissen, sagt' ich, ist schärfer als sein Talent. — Nachschrift. Gutzkow's „Zopf und Schwert" ging gestern hier zum ersten Mal über die Bühne. Das neue Theaterjahr wurde in Dresden damit begrüßt. Es konnte nicht glücklicher eröffnet werden. Auch hat Gutzkow wohl nichts Glücklicheres geschaffen. Er greift, wo er rühren will, zu fal¬ schen Mitteln. Hier aber, wo er für die Waffen seines Scharfsinns den Schauplatz fand, bewegt er sich wie in seiner eignen Welt. Dies dramatische Zeitgemälde, wie er sein neues Erzeugnis) nennt, ist ein höchst gelungenes geistvolles Spiel des Witzes und der Sa^ tyre, eben so pointenreich in den Einfällen, als durch die rasche Folge pikanter Gruppen und Scenen effectvoll. Daß manche saty¬ rische Charakteristik an die Posse streift, wolle Niemand rügen, der das Bedürfniß des heutigen Publicums nach starker Würze, wo sie erlaubt ist, kennt. Die Intrigue des Stoffes ist sehr einfach, aber sie hält die belebten Zeitbilder in ihrer raschen bunten Folge hinlänglich fest. In der Erfindung ist hier Nichts erkünstelt, Gutzkow ist hier

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/128
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/128>, abgerufen am 29.06.2024.