Stoffe als Ertract absieden läßt. Die Poesie aber gibt Seel' und Leib als Eins, sie will nicht das Ergebniß der Sache, sondern die Sache selbst; sind die Factoren falsch, so kann sie uns nicht auf ein richtiges Facit des Nechnenerempels vertrösten wollen. Auch in Gutz- kow's Werner werden uns gesellschaftliche und psychische Unmöglich¬ keiten als Vorbedingungen zur Katastrophe zugemuther; die Katastro¬ phe selbst, der eheliche Conflict zwischen Werner und seiner Frau, ist allerdings mit einer Macht und einer ergreifenden Wahrheit hin¬ gestellt, der nur um so mehr fühlen läßt, wie schief diese Zustände moderner Welt hier herbeigeführt sind und wie unwahr sie vom Dichter gelöst und gesühnt werden. "Werner," sagt Hebbel, "genügt am wenigsten." Er verkennt also hier den Kern, weil er in einer falschen Umschälung liegt. "Werner," sagt Hebbel, "scheint mehr aus einem Gefühl, als aus einer Idee hervorgegangen zu sein." Kann ein Dichter so verblendet sein, dies zu tadeln? Kann eine Dich¬ tung überhaupt mit einer Idee, die sie beweisen soll, für Anwen¬ dung falscher Mittel, unwahrer Empfindungen entschädigen? -- "Patkul," sagt Hebbel, "zeigt, wer an einem Hofe die abhängigste Person ist, und es gilt gleich, ob die Zeichnung auf August den Starken paßt oder nicht." Ganz richtig; Porträtähnlichkeit verlangen wir nicht vom historischen Drama, Kongruenz mit der Geschichte be¬ zweckt die Poesie nicht. Aber die Zeichnung des Dichters muß, mich wo sein Pinsel das bestimmte Zeitalter verfehlt und nicht trifft, auf Menschen und menschliche Zustände überhaupt passen. Ob Schiller's Wallenstein der historische, Schiller's Philipp in Spanien der wirk¬ liche, bestimmt nicht die Giltigkeit der dichterischen Gestalten, aber daß sie wie große Menschen auf solchem Schauplatz und in solchen Bedingungen fühlen und denken, das macht die Dichtung wahr, gibt ihr eine tiefere Bedeutsamkeit, als die Figuren in der realen Geschichte je für uns haben können. Patkul aber und Gutzkow's August stehen im Stücke, wie Menschen niemals zu Menschen standen. Diese in¬ nere Unwahrheit stürzt die scharfsinnigsten Combinationen des Dich¬ ters. "Die Schule der Reichen," sagt Hebbel, "lehrt --." Doch wir kümmern uns nicht um das, was sie lehren will. Zweck und Ten¬ denz machen Versündigungen gegen menschliche Empfindung nicht Wieder gut. Das will ich nicht gegen dies Stück gesagt haben. Es hat einen genialen Entwurf, nimmt einen kecken und überraschenden
16"
Stoffe als Ertract absieden läßt. Die Poesie aber gibt Seel' und Leib als Eins, sie will nicht das Ergebniß der Sache, sondern die Sache selbst; sind die Factoren falsch, so kann sie uns nicht auf ein richtiges Facit des Nechnenerempels vertrösten wollen. Auch in Gutz- kow's Werner werden uns gesellschaftliche und psychische Unmöglich¬ keiten als Vorbedingungen zur Katastrophe zugemuther; die Katastro¬ phe selbst, der eheliche Conflict zwischen Werner und seiner Frau, ist allerdings mit einer Macht und einer ergreifenden Wahrheit hin¬ gestellt, der nur um so mehr fühlen läßt, wie schief diese Zustände moderner Welt hier herbeigeführt sind und wie unwahr sie vom Dichter gelöst und gesühnt werden. „Werner," sagt Hebbel, „genügt am wenigsten." Er verkennt also hier den Kern, weil er in einer falschen Umschälung liegt. „Werner," sagt Hebbel, „scheint mehr aus einem Gefühl, als aus einer Idee hervorgegangen zu sein." Kann ein Dichter so verblendet sein, dies zu tadeln? Kann eine Dich¬ tung überhaupt mit einer Idee, die sie beweisen soll, für Anwen¬ dung falscher Mittel, unwahrer Empfindungen entschädigen? — „Patkul," sagt Hebbel, „zeigt, wer an einem Hofe die abhängigste Person ist, und es gilt gleich, ob die Zeichnung auf August den Starken paßt oder nicht." Ganz richtig; Porträtähnlichkeit verlangen wir nicht vom historischen Drama, Kongruenz mit der Geschichte be¬ zweckt die Poesie nicht. Aber die Zeichnung des Dichters muß, mich wo sein Pinsel das bestimmte Zeitalter verfehlt und nicht trifft, auf Menschen und menschliche Zustände überhaupt passen. Ob Schiller's Wallenstein der historische, Schiller's Philipp in Spanien der wirk¬ liche, bestimmt nicht die Giltigkeit der dichterischen Gestalten, aber daß sie wie große Menschen auf solchem Schauplatz und in solchen Bedingungen fühlen und denken, das macht die Dichtung wahr, gibt ihr eine tiefere Bedeutsamkeit, als die Figuren in der realen Geschichte je für uns haben können. Patkul aber und Gutzkow's August stehen im Stücke, wie Menschen niemals zu Menschen standen. Diese in¬ nere Unwahrheit stürzt die scharfsinnigsten Combinationen des Dich¬ ters. „Die Schule der Reichen," sagt Hebbel, „lehrt —." Doch wir kümmern uns nicht um das, was sie lehren will. Zweck und Ten¬ denz machen Versündigungen gegen menschliche Empfindung nicht Wieder gut. Das will ich nicht gegen dies Stück gesagt haben. Es hat einen genialen Entwurf, nimmt einen kecken und überraschenden
16»
<TEI><text><body><div><divn="1"><pbfacs="#f0127"corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/179840"/><pxml:id="ID_361"prev="#ID_360"next="#ID_362"> Stoffe als Ertract absieden läßt. Die Poesie aber gibt Seel' und<lb/>
Leib als Eins, sie will nicht das Ergebniß der Sache, sondern die<lb/>
Sache selbst; sind die Factoren falsch, so kann sie uns nicht auf ein<lb/>
richtiges Facit des Nechnenerempels vertrösten wollen. Auch in Gutz-<lb/>
kow's Werner werden uns gesellschaftliche und psychische Unmöglich¬<lb/>
keiten als Vorbedingungen zur Katastrophe zugemuther; die Katastro¬<lb/>
phe selbst, der eheliche Conflict zwischen Werner und seiner Frau, ist<lb/>
allerdings mit einer Macht und einer ergreifenden Wahrheit hin¬<lb/>
gestellt, der nur um so mehr fühlen läßt, wie schief diese Zustände<lb/>
moderner Welt hier herbeigeführt sind und wie unwahr sie vom<lb/>
Dichter gelöst und gesühnt werden. „Werner," sagt Hebbel, „genügt<lb/>
am wenigsten." Er verkennt also hier den Kern, weil er in einer<lb/>
falschen Umschälung liegt. „Werner," sagt Hebbel, „scheint mehr aus<lb/>
einem Gefühl, als aus einer Idee hervorgegangen zu sein." Kann<lb/>
ein Dichter so verblendet sein, dies zu tadeln? Kann eine Dich¬<lb/>
tung überhaupt mit einer Idee, die sie beweisen soll, für Anwen¬<lb/>
dung falscher Mittel, unwahrer Empfindungen entschädigen? —<lb/>„Patkul," sagt Hebbel, „zeigt, wer an einem Hofe die abhängigste<lb/>
Person ist, und es gilt gleich, ob die Zeichnung auf August den<lb/>
Starken paßt oder nicht." Ganz richtig; Porträtähnlichkeit verlangen<lb/>
wir nicht vom historischen Drama, Kongruenz mit der Geschichte be¬<lb/>
zweckt die Poesie nicht. Aber die Zeichnung des Dichters muß, mich<lb/>
wo sein Pinsel das bestimmte Zeitalter verfehlt und nicht trifft, auf<lb/>
Menschen und menschliche Zustände überhaupt passen. Ob Schiller's<lb/>
Wallenstein der historische, Schiller's Philipp in Spanien der wirk¬<lb/>
liche, bestimmt nicht die Giltigkeit der dichterischen Gestalten, aber<lb/>
daß sie wie große Menschen auf solchem Schauplatz und in solchen<lb/>
Bedingungen fühlen und denken, das macht die Dichtung wahr, gibt<lb/>
ihr eine tiefere Bedeutsamkeit, als die Figuren in der realen Geschichte<lb/>
je für uns haben können. Patkul aber und Gutzkow's August stehen<lb/>
im Stücke, wie Menschen niemals zu Menschen standen. Diese in¬<lb/>
nere Unwahrheit stürzt die scharfsinnigsten Combinationen des Dich¬<lb/>
ters. „Die Schule der Reichen," sagt Hebbel, „lehrt —." Doch wir<lb/>
kümmern uns nicht um das, was sie lehren will. Zweck und Ten¬<lb/>
denz machen Versündigungen gegen menschliche Empfindung nicht<lb/>
Wieder gut. Das will ich nicht gegen dies Stück gesagt haben. Es<lb/>
hat einen genialen Entwurf, nimmt einen kecken und überraschenden</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig"> 16»</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[0127]
Stoffe als Ertract absieden läßt. Die Poesie aber gibt Seel' und
Leib als Eins, sie will nicht das Ergebniß der Sache, sondern die
Sache selbst; sind die Factoren falsch, so kann sie uns nicht auf ein
richtiges Facit des Nechnenerempels vertrösten wollen. Auch in Gutz-
kow's Werner werden uns gesellschaftliche und psychische Unmöglich¬
keiten als Vorbedingungen zur Katastrophe zugemuther; die Katastro¬
phe selbst, der eheliche Conflict zwischen Werner und seiner Frau, ist
allerdings mit einer Macht und einer ergreifenden Wahrheit hin¬
gestellt, der nur um so mehr fühlen läßt, wie schief diese Zustände
moderner Welt hier herbeigeführt sind und wie unwahr sie vom
Dichter gelöst und gesühnt werden. „Werner," sagt Hebbel, „genügt
am wenigsten." Er verkennt also hier den Kern, weil er in einer
falschen Umschälung liegt. „Werner," sagt Hebbel, „scheint mehr aus
einem Gefühl, als aus einer Idee hervorgegangen zu sein." Kann
ein Dichter so verblendet sein, dies zu tadeln? Kann eine Dich¬
tung überhaupt mit einer Idee, die sie beweisen soll, für Anwen¬
dung falscher Mittel, unwahrer Empfindungen entschädigen? —
„Patkul," sagt Hebbel, „zeigt, wer an einem Hofe die abhängigste
Person ist, und es gilt gleich, ob die Zeichnung auf August den
Starken paßt oder nicht." Ganz richtig; Porträtähnlichkeit verlangen
wir nicht vom historischen Drama, Kongruenz mit der Geschichte be¬
zweckt die Poesie nicht. Aber die Zeichnung des Dichters muß, mich
wo sein Pinsel das bestimmte Zeitalter verfehlt und nicht trifft, auf
Menschen und menschliche Zustände überhaupt passen. Ob Schiller's
Wallenstein der historische, Schiller's Philipp in Spanien der wirk¬
liche, bestimmt nicht die Giltigkeit der dichterischen Gestalten, aber
daß sie wie große Menschen auf solchem Schauplatz und in solchen
Bedingungen fühlen und denken, das macht die Dichtung wahr, gibt
ihr eine tiefere Bedeutsamkeit, als die Figuren in der realen Geschichte
je für uns haben können. Patkul aber und Gutzkow's August stehen
im Stücke, wie Menschen niemals zu Menschen standen. Diese in¬
nere Unwahrheit stürzt die scharfsinnigsten Combinationen des Dich¬
ters. „Die Schule der Reichen," sagt Hebbel, „lehrt —." Doch wir
kümmern uns nicht um das, was sie lehren will. Zweck und Ten¬
denz machen Versündigungen gegen menschliche Empfindung nicht
Wieder gut. Das will ich nicht gegen dies Stück gesagt haben. Es
hat einen genialen Entwurf, nimmt einen kecken und überraschenden
16»
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/127>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.