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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Stoffe als Ertract absieden läßt. Die Poesie aber gibt Seel' und
Leib als Eins, sie will nicht das Ergebniß der Sache, sondern die
Sache selbst; sind die Factoren falsch, so kann sie uns nicht auf ein
richtiges Facit des Nechnenerempels vertrösten wollen. Auch in Gutz-
kow's Werner werden uns gesellschaftliche und psychische Unmöglich¬
keiten als Vorbedingungen zur Katastrophe zugemuther; die Katastro¬
phe selbst, der eheliche Conflict zwischen Werner und seiner Frau, ist
allerdings mit einer Macht und einer ergreifenden Wahrheit hin¬
gestellt, der nur um so mehr fühlen läßt, wie schief diese Zustände
moderner Welt hier herbeigeführt sind und wie unwahr sie vom
Dichter gelöst und gesühnt werden. "Werner," sagt Hebbel, "genügt
am wenigsten." Er verkennt also hier den Kern, weil er in einer
falschen Umschälung liegt. "Werner," sagt Hebbel, "scheint mehr aus
einem Gefühl, als aus einer Idee hervorgegangen zu sein." Kann
ein Dichter so verblendet sein, dies zu tadeln? Kann eine Dich¬
tung überhaupt mit einer Idee, die sie beweisen soll, für Anwen¬
dung falscher Mittel, unwahrer Empfindungen entschädigen? --
"Patkul," sagt Hebbel, "zeigt, wer an einem Hofe die abhängigste
Person ist, und es gilt gleich, ob die Zeichnung auf August den
Starken paßt oder nicht." Ganz richtig; Porträtähnlichkeit verlangen
wir nicht vom historischen Drama, Kongruenz mit der Geschichte be¬
zweckt die Poesie nicht. Aber die Zeichnung des Dichters muß, mich
wo sein Pinsel das bestimmte Zeitalter verfehlt und nicht trifft, auf
Menschen und menschliche Zustände überhaupt passen. Ob Schiller's
Wallenstein der historische, Schiller's Philipp in Spanien der wirk¬
liche, bestimmt nicht die Giltigkeit der dichterischen Gestalten, aber
daß sie wie große Menschen auf solchem Schauplatz und in solchen
Bedingungen fühlen und denken, das macht die Dichtung wahr, gibt
ihr eine tiefere Bedeutsamkeit, als die Figuren in der realen Geschichte
je für uns haben können. Patkul aber und Gutzkow's August stehen
im Stücke, wie Menschen niemals zu Menschen standen. Diese in¬
nere Unwahrheit stürzt die scharfsinnigsten Combinationen des Dich¬
ters. "Die Schule der Reichen," sagt Hebbel, "lehrt --." Doch wir
kümmern uns nicht um das, was sie lehren will. Zweck und Ten¬
denz machen Versündigungen gegen menschliche Empfindung nicht
Wieder gut. Das will ich nicht gegen dies Stück gesagt haben. Es
hat einen genialen Entwurf, nimmt einen kecken und überraschenden


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Stoffe als Ertract absieden läßt. Die Poesie aber gibt Seel' und
Leib als Eins, sie will nicht das Ergebniß der Sache, sondern die
Sache selbst; sind die Factoren falsch, so kann sie uns nicht auf ein
richtiges Facit des Nechnenerempels vertrösten wollen. Auch in Gutz-
kow's Werner werden uns gesellschaftliche und psychische Unmöglich¬
keiten als Vorbedingungen zur Katastrophe zugemuther; die Katastro¬
phe selbst, der eheliche Conflict zwischen Werner und seiner Frau, ist
allerdings mit einer Macht und einer ergreifenden Wahrheit hin¬
gestellt, der nur um so mehr fühlen läßt, wie schief diese Zustände
moderner Welt hier herbeigeführt sind und wie unwahr sie vom
Dichter gelöst und gesühnt werden. „Werner," sagt Hebbel, „genügt
am wenigsten." Er verkennt also hier den Kern, weil er in einer
falschen Umschälung liegt. „Werner," sagt Hebbel, „scheint mehr aus
einem Gefühl, als aus einer Idee hervorgegangen zu sein." Kann
ein Dichter so verblendet sein, dies zu tadeln? Kann eine Dich¬
tung überhaupt mit einer Idee, die sie beweisen soll, für Anwen¬
dung falscher Mittel, unwahrer Empfindungen entschädigen? —
„Patkul," sagt Hebbel, „zeigt, wer an einem Hofe die abhängigste
Person ist, und es gilt gleich, ob die Zeichnung auf August den
Starken paßt oder nicht." Ganz richtig; Porträtähnlichkeit verlangen
wir nicht vom historischen Drama, Kongruenz mit der Geschichte be¬
zweckt die Poesie nicht. Aber die Zeichnung des Dichters muß, mich
wo sein Pinsel das bestimmte Zeitalter verfehlt und nicht trifft, auf
Menschen und menschliche Zustände überhaupt passen. Ob Schiller's
Wallenstein der historische, Schiller's Philipp in Spanien der wirk¬
liche, bestimmt nicht die Giltigkeit der dichterischen Gestalten, aber
daß sie wie große Menschen auf solchem Schauplatz und in solchen
Bedingungen fühlen und denken, das macht die Dichtung wahr, gibt
ihr eine tiefere Bedeutsamkeit, als die Figuren in der realen Geschichte
je für uns haben können. Patkul aber und Gutzkow's August stehen
im Stücke, wie Menschen niemals zu Menschen standen. Diese in¬
nere Unwahrheit stürzt die scharfsinnigsten Combinationen des Dich¬
ters. „Die Schule der Reichen," sagt Hebbel, „lehrt —." Doch wir
kümmern uns nicht um das, was sie lehren will. Zweck und Ten¬
denz machen Versündigungen gegen menschliche Empfindung nicht
Wieder gut. Das will ich nicht gegen dies Stück gesagt haben. Es
hat einen genialen Entwurf, nimmt einen kecken und überraschenden


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[0127] Stoffe als Ertract absieden läßt. Die Poesie aber gibt Seel' und Leib als Eins, sie will nicht das Ergebniß der Sache, sondern die Sache selbst; sind die Factoren falsch, so kann sie uns nicht auf ein richtiges Facit des Nechnenerempels vertrösten wollen. Auch in Gutz- kow's Werner werden uns gesellschaftliche und psychische Unmöglich¬ keiten als Vorbedingungen zur Katastrophe zugemuther; die Katastro¬ phe selbst, der eheliche Conflict zwischen Werner und seiner Frau, ist allerdings mit einer Macht und einer ergreifenden Wahrheit hin¬ gestellt, der nur um so mehr fühlen läßt, wie schief diese Zustände moderner Welt hier herbeigeführt sind und wie unwahr sie vom Dichter gelöst und gesühnt werden. „Werner," sagt Hebbel, „genügt am wenigsten." Er verkennt also hier den Kern, weil er in einer falschen Umschälung liegt. „Werner," sagt Hebbel, „scheint mehr aus einem Gefühl, als aus einer Idee hervorgegangen zu sein." Kann ein Dichter so verblendet sein, dies zu tadeln? Kann eine Dich¬ tung überhaupt mit einer Idee, die sie beweisen soll, für Anwen¬ dung falscher Mittel, unwahrer Empfindungen entschädigen? — „Patkul," sagt Hebbel, „zeigt, wer an einem Hofe die abhängigste Person ist, und es gilt gleich, ob die Zeichnung auf August den Starken paßt oder nicht." Ganz richtig; Porträtähnlichkeit verlangen wir nicht vom historischen Drama, Kongruenz mit der Geschichte be¬ zweckt die Poesie nicht. Aber die Zeichnung des Dichters muß, mich wo sein Pinsel das bestimmte Zeitalter verfehlt und nicht trifft, auf Menschen und menschliche Zustände überhaupt passen. Ob Schiller's Wallenstein der historische, Schiller's Philipp in Spanien der wirk¬ liche, bestimmt nicht die Giltigkeit der dichterischen Gestalten, aber daß sie wie große Menschen auf solchem Schauplatz und in solchen Bedingungen fühlen und denken, das macht die Dichtung wahr, gibt ihr eine tiefere Bedeutsamkeit, als die Figuren in der realen Geschichte je für uns haben können. Patkul aber und Gutzkow's August stehen im Stücke, wie Menschen niemals zu Menschen standen. Diese in¬ nere Unwahrheit stürzt die scharfsinnigsten Combinationen des Dich¬ ters. „Die Schule der Reichen," sagt Hebbel, „lehrt —." Doch wir kümmern uns nicht um das, was sie lehren will. Zweck und Ten¬ denz machen Versündigungen gegen menschliche Empfindung nicht Wieder gut. Das will ich nicht gegen dies Stück gesagt haben. Es hat einen genialen Entwurf, nimmt einen kecken und überraschenden 16»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/127>, abgerufen am 28.09.2024.