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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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zen Entwickelung der Zeiten bedungen. Das Mittelalter gab alle
Stoffe des Lebens an die sich selbst fühlende Naturkraft hin, und das
protestantische Christenthum eröffnete die Welt des Individuums, gab
die Persönlichkeit frei, schuf Charaktere. Und nimmt nun der gro߬
artige, kraftbeseelte Dichter solche Charaktere, wie sie ihm sein Zeit¬
alter gab, und läßt sie mit der ganzen Macht ihrer Schadelstärke
an einander prallen: so haben wir das Shakspearcsche Drama. Aber
das Alles ist doch nur für eben jenes Zeitalter giltig. Mit solchen
Elementen fällt auch die Giltigkeit solcher dichterischen Geburten fort,
nicht für sich selbst, sondern für uns! Nur mit solchen Charakteren
ist die regellose Romantik solcher dramatischen Form möglich und
erträglich. Wir haben weder diese heroischen Gestalten, die uns das
Zeitalter liefert, noch in uns selbst die Naturkraft, die sich am Spiel
der elementarischen Willkür ein Genüge schafft. Die ganze Weltan¬
schauung ist eine andere geworden. Das Christenthum hat nicht
mehr die Kraft des ersten Stoßes auf eine ihr noch nie Unterthans
Welt, das Christenthum macht nicht mehr frei, macht keine Heroen
mehr. Wie soll die fessellose Willkür der frei gewordenen Natur¬
kraft noch in unseren Dramen, den Abbildern des Menschenlebens,
toben und sprühen! Gespenster gelten nicht, Schatten sind unmächtig.
Gestalten der Vergangenheit können nur mit dein Lebensathem von
heute uns reizen, das historische Drama kann uns nicht zurückver¬
setzen wollen; selbst Shakspeare'ö Charaktere aus den ihm entlegensten
Zeiten und Orten waren doch immer nur Organe seiner Welt,
sprechen wie Genossen seiner Epoche. Und wenn Charaktere von
heute unsere Stücke füllen, können sie noch mit dem romantischen
Lärm des mittelalterlichen Lebens auftreten?

Ich will keinen Sprung machen und sagen, der ganze Geist
unsers Jahrhunderts müsse den dramatischen Dichter zum Jntri-
guenspiel führen. Es sieht immer thöricht aus, mit abstracten Ab¬
handlungen nachhelfen zu wollen. Aber die Franzosen thun, was
wir uns erst nach tausend Experimenten, Versuchen und Ueberzeu¬
gungen langsam construiren. Die Intrigue ist die Form, in welcher
der Weltgeist die heutige Menschheit regiert, nicht die Naturkraft,
nicht der Heroismus, nicht die Begeisterung. Scribe beherrscht nicht
zufällig diese Epoche. Laube hat Recht; nur darf er Scribe's Form
nicht mit Scribe's Inhalt verwechseln, uns nicht diesen statt jener auf-


zen Entwickelung der Zeiten bedungen. Das Mittelalter gab alle
Stoffe des Lebens an die sich selbst fühlende Naturkraft hin, und das
protestantische Christenthum eröffnete die Welt des Individuums, gab
die Persönlichkeit frei, schuf Charaktere. Und nimmt nun der gro߬
artige, kraftbeseelte Dichter solche Charaktere, wie sie ihm sein Zeit¬
alter gab, und läßt sie mit der ganzen Macht ihrer Schadelstärke
an einander prallen: so haben wir das Shakspearcsche Drama. Aber
das Alles ist doch nur für eben jenes Zeitalter giltig. Mit solchen
Elementen fällt auch die Giltigkeit solcher dichterischen Geburten fort,
nicht für sich selbst, sondern für uns! Nur mit solchen Charakteren
ist die regellose Romantik solcher dramatischen Form möglich und
erträglich. Wir haben weder diese heroischen Gestalten, die uns das
Zeitalter liefert, noch in uns selbst die Naturkraft, die sich am Spiel
der elementarischen Willkür ein Genüge schafft. Die ganze Weltan¬
schauung ist eine andere geworden. Das Christenthum hat nicht
mehr die Kraft des ersten Stoßes auf eine ihr noch nie Unterthans
Welt, das Christenthum macht nicht mehr frei, macht keine Heroen
mehr. Wie soll die fessellose Willkür der frei gewordenen Natur¬
kraft noch in unseren Dramen, den Abbildern des Menschenlebens,
toben und sprühen! Gespenster gelten nicht, Schatten sind unmächtig.
Gestalten der Vergangenheit können nur mit dein Lebensathem von
heute uns reizen, das historische Drama kann uns nicht zurückver¬
setzen wollen; selbst Shakspeare'ö Charaktere aus den ihm entlegensten
Zeiten und Orten waren doch immer nur Organe seiner Welt,
sprechen wie Genossen seiner Epoche. Und wenn Charaktere von
heute unsere Stücke füllen, können sie noch mit dem romantischen
Lärm des mittelalterlichen Lebens auftreten?

Ich will keinen Sprung machen und sagen, der ganze Geist
unsers Jahrhunderts müsse den dramatischen Dichter zum Jntri-
guenspiel führen. Es sieht immer thöricht aus, mit abstracten Ab¬
handlungen nachhelfen zu wollen. Aber die Franzosen thun, was
wir uns erst nach tausend Experimenten, Versuchen und Ueberzeu¬
gungen langsam construiren. Die Intrigue ist die Form, in welcher
der Weltgeist die heutige Menschheit regiert, nicht die Naturkraft,
nicht der Heroismus, nicht die Begeisterung. Scribe beherrscht nicht
zufällig diese Epoche. Laube hat Recht; nur darf er Scribe's Form
nicht mit Scribe's Inhalt verwechseln, uns nicht diesen statt jener auf-


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[0124] zen Entwickelung der Zeiten bedungen. Das Mittelalter gab alle Stoffe des Lebens an die sich selbst fühlende Naturkraft hin, und das protestantische Christenthum eröffnete die Welt des Individuums, gab die Persönlichkeit frei, schuf Charaktere. Und nimmt nun der gro߬ artige, kraftbeseelte Dichter solche Charaktere, wie sie ihm sein Zeit¬ alter gab, und läßt sie mit der ganzen Macht ihrer Schadelstärke an einander prallen: so haben wir das Shakspearcsche Drama. Aber das Alles ist doch nur für eben jenes Zeitalter giltig. Mit solchen Elementen fällt auch die Giltigkeit solcher dichterischen Geburten fort, nicht für sich selbst, sondern für uns! Nur mit solchen Charakteren ist die regellose Romantik solcher dramatischen Form möglich und erträglich. Wir haben weder diese heroischen Gestalten, die uns das Zeitalter liefert, noch in uns selbst die Naturkraft, die sich am Spiel der elementarischen Willkür ein Genüge schafft. Die ganze Weltan¬ schauung ist eine andere geworden. Das Christenthum hat nicht mehr die Kraft des ersten Stoßes auf eine ihr noch nie Unterthans Welt, das Christenthum macht nicht mehr frei, macht keine Heroen mehr. Wie soll die fessellose Willkür der frei gewordenen Natur¬ kraft noch in unseren Dramen, den Abbildern des Menschenlebens, toben und sprühen! Gespenster gelten nicht, Schatten sind unmächtig. Gestalten der Vergangenheit können nur mit dein Lebensathem von heute uns reizen, das historische Drama kann uns nicht zurückver¬ setzen wollen; selbst Shakspeare'ö Charaktere aus den ihm entlegensten Zeiten und Orten waren doch immer nur Organe seiner Welt, sprechen wie Genossen seiner Epoche. Und wenn Charaktere von heute unsere Stücke füllen, können sie noch mit dem romantischen Lärm des mittelalterlichen Lebens auftreten? Ich will keinen Sprung machen und sagen, der ganze Geist unsers Jahrhunderts müsse den dramatischen Dichter zum Jntri- guenspiel führen. Es sieht immer thöricht aus, mit abstracten Ab¬ handlungen nachhelfen zu wollen. Aber die Franzosen thun, was wir uns erst nach tausend Experimenten, Versuchen und Ueberzeu¬ gungen langsam construiren. Die Intrigue ist die Form, in welcher der Weltgeist die heutige Menschheit regiert, nicht die Naturkraft, nicht der Heroismus, nicht die Begeisterung. Scribe beherrscht nicht zufällig diese Epoche. Laube hat Recht; nur darf er Scribe's Form nicht mit Scribe's Inhalt verwechseln, uns nicht diesen statt jener auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/124>, abgerufen am 29.06.2024.