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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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die Judith, mit Begeisterung,, mit der Befähigung zur Größe. Aber
die tragischen Spitzen brachen ab, das Verwegene erschien utopisch,
das Ungeheuere erweckte Gelächter, Alles schlug in sein Gegentheil
um. Daß Judith ihren Helden liebt, während sie ihn mordet, sich
ihm hingab, während sie ihn verabscheute, führt weder zu einer Ret¬
tung der Gestalten, noch zu einer dramatischen Wendung des Stof¬
fes, gibt nur dem lyrischen Tiefsinn Raum zum Ausspruch. -- Und
dieser lyrische Tiefsinn des Dichters färbt noch viel mehr seine Tra¬
gödie Genoveva. Sie sollte Golo heißen; denn sie entfaltet wesent¬
lich die monologischen Momente dieser in Leidenschaft schwelgenden,
aus versagter Liebe mit Himmel und Holle buhlenden Männer¬
gestalt.

Wenn die Irrungen der dramatischen Poesie von heute immer
solche an sich merkwürdige und bedeutungsschwere -- lyrische Ge¬
dichte verschuldeten, so könnten wir uns zu diesen Bestrebungen des
literarischen Zeitalters Glück wünschen. Aber die Bühne wird nicht
damit gerettet. Doch ich wollte auffinden, auf welchen Punkten
Hebbel'S Irrthümer als Fehler lehrreich sind. Wir wollen sein Glau¬
bensbekenntniß, wie er es in Prosa und nicht sub roh-l ausgesprochen,
weiter betrachten.

Hebbel verfällt nicht leicht in den Fehler eines andern unserer
jetzigen deutschen Dramatiker, dessen Hauptcharaktere zu viel Welt-
und Selbstbewußtsein haben, um sie noch als einzelne Creaturen
nehmen zu können. Ich meine, so weit ich sie kenne, einige Dramen
von M osen. Da sprechen die Gestalten nicht blos wie heroische
Naturen, die dichterisch fühlen, sondern wie der Geist der Weltge¬
schichte selber, träte er in Person auf und setzte die Tuba an die
Lippen. Hebbel'S Gestalten haben Entwickelung, haben ihre Genesis,
greifen dialektisch ein in den Stoff. Ständen sie in einem dramati¬
schen Ganzen, sie würden dramatisch wirken.

Damit sprech' ich ganz einfach die Meinung aus, daß Charaktere
noch nicht das Drama machen. Und das verstößt freilich gegen
Shakspeare und den ganzen Glauben, der sich auf diese gewaltige
Dichternatur stützt. Shakspeare kehrte die Oekonomie der antiken
Tragödie um. Shakspeare befreite die Charaktere von der Oberherr¬
schaft der Fabel. Wer will läugnen, daß der modernen Welt erst
mit dem Briten das Drama eröffnet wurde! Es lag das in der gan-


die Judith, mit Begeisterung,, mit der Befähigung zur Größe. Aber
die tragischen Spitzen brachen ab, das Verwegene erschien utopisch,
das Ungeheuere erweckte Gelächter, Alles schlug in sein Gegentheil
um. Daß Judith ihren Helden liebt, während sie ihn mordet, sich
ihm hingab, während sie ihn verabscheute, führt weder zu einer Ret¬
tung der Gestalten, noch zu einer dramatischen Wendung des Stof¬
fes, gibt nur dem lyrischen Tiefsinn Raum zum Ausspruch. — Und
dieser lyrische Tiefsinn des Dichters färbt noch viel mehr seine Tra¬
gödie Genoveva. Sie sollte Golo heißen; denn sie entfaltet wesent¬
lich die monologischen Momente dieser in Leidenschaft schwelgenden,
aus versagter Liebe mit Himmel und Holle buhlenden Männer¬
gestalt.

Wenn die Irrungen der dramatischen Poesie von heute immer
solche an sich merkwürdige und bedeutungsschwere — lyrische Ge¬
dichte verschuldeten, so könnten wir uns zu diesen Bestrebungen des
literarischen Zeitalters Glück wünschen. Aber die Bühne wird nicht
damit gerettet. Doch ich wollte auffinden, auf welchen Punkten
Hebbel'S Irrthümer als Fehler lehrreich sind. Wir wollen sein Glau¬
bensbekenntniß, wie er es in Prosa und nicht sub roh-l ausgesprochen,
weiter betrachten.

Hebbel verfällt nicht leicht in den Fehler eines andern unserer
jetzigen deutschen Dramatiker, dessen Hauptcharaktere zu viel Welt-
und Selbstbewußtsein haben, um sie noch als einzelne Creaturen
nehmen zu können. Ich meine, so weit ich sie kenne, einige Dramen
von M osen. Da sprechen die Gestalten nicht blos wie heroische
Naturen, die dichterisch fühlen, sondern wie der Geist der Weltge¬
schichte selber, träte er in Person auf und setzte die Tuba an die
Lippen. Hebbel'S Gestalten haben Entwickelung, haben ihre Genesis,
greifen dialektisch ein in den Stoff. Ständen sie in einem dramati¬
schen Ganzen, sie würden dramatisch wirken.

Damit sprech' ich ganz einfach die Meinung aus, daß Charaktere
noch nicht das Drama machen. Und das verstößt freilich gegen
Shakspeare und den ganzen Glauben, der sich auf diese gewaltige
Dichternatur stützt. Shakspeare kehrte die Oekonomie der antiken
Tragödie um. Shakspeare befreite die Charaktere von der Oberherr¬
schaft der Fabel. Wer will läugnen, daß der modernen Welt erst
mit dem Briten das Drama eröffnet wurde! Es lag das in der gan-


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[0123] die Judith, mit Begeisterung,, mit der Befähigung zur Größe. Aber die tragischen Spitzen brachen ab, das Verwegene erschien utopisch, das Ungeheuere erweckte Gelächter, Alles schlug in sein Gegentheil um. Daß Judith ihren Helden liebt, während sie ihn mordet, sich ihm hingab, während sie ihn verabscheute, führt weder zu einer Ret¬ tung der Gestalten, noch zu einer dramatischen Wendung des Stof¬ fes, gibt nur dem lyrischen Tiefsinn Raum zum Ausspruch. — Und dieser lyrische Tiefsinn des Dichters färbt noch viel mehr seine Tra¬ gödie Genoveva. Sie sollte Golo heißen; denn sie entfaltet wesent¬ lich die monologischen Momente dieser in Leidenschaft schwelgenden, aus versagter Liebe mit Himmel und Holle buhlenden Männer¬ gestalt. Wenn die Irrungen der dramatischen Poesie von heute immer solche an sich merkwürdige und bedeutungsschwere — lyrische Ge¬ dichte verschuldeten, so könnten wir uns zu diesen Bestrebungen des literarischen Zeitalters Glück wünschen. Aber die Bühne wird nicht damit gerettet. Doch ich wollte auffinden, auf welchen Punkten Hebbel'S Irrthümer als Fehler lehrreich sind. Wir wollen sein Glau¬ bensbekenntniß, wie er es in Prosa und nicht sub roh-l ausgesprochen, weiter betrachten. Hebbel verfällt nicht leicht in den Fehler eines andern unserer jetzigen deutschen Dramatiker, dessen Hauptcharaktere zu viel Welt- und Selbstbewußtsein haben, um sie noch als einzelne Creaturen nehmen zu können. Ich meine, so weit ich sie kenne, einige Dramen von M osen. Da sprechen die Gestalten nicht blos wie heroische Naturen, die dichterisch fühlen, sondern wie der Geist der Weltge¬ schichte selber, träte er in Person auf und setzte die Tuba an die Lippen. Hebbel'S Gestalten haben Entwickelung, haben ihre Genesis, greifen dialektisch ein in den Stoff. Ständen sie in einem dramati¬ schen Ganzen, sie würden dramatisch wirken. Damit sprech' ich ganz einfach die Meinung aus, daß Charaktere noch nicht das Drama machen. Und das verstößt freilich gegen Shakspeare und den ganzen Glauben, der sich auf diese gewaltige Dichternatur stützt. Shakspeare kehrte die Oekonomie der antiken Tragödie um. Shakspeare befreite die Charaktere von der Oberherr¬ schaft der Fabel. Wer will läugnen, daß der modernen Welt erst mit dem Briten das Drama eröffnet wurde! Es lag das in der gan-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/123>, abgerufen am 23.12.2024.