Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

nöthigen wollen. Und selbst die Form, in der die Franzosen die
europäischen Bühnen beherrschen, kann für uns als eine entlehnte
nicht angepflanzt werden. Wenn sie sich nicht von selbst aus den
uns eigenen Stoffen ergibt, so bleibt sie ohne alle Wirkung, wo es
gilt, die heimische Bühne neu zu gestalten, Literatur und Theater
in eine neue lebendige Wechselwirkung zu bringen. -- "Also drama¬
tische Jntriguenspiele thun uns Noth und sind uns Nothwendigkeit!
Aus dem Geiste unsers Zeitalters förmlich nachgewiesen? Es ist
wahr, an Intriguen, deutsch gesagt: Quertreibereien, fehlt es uns
nicht. Nun, dann kämen wir am Ende selbst ohne Freiheit der
Presse zum langersehnten deutschen Lustspiel? Auf dem Wege der
Intrigue!" -- Spotten wir nicht, mein Freund! Unser Zeitalter ist
sehr hilfsbedürftig. Rufen wir seinen Geist nicht auf, blos um ihn
zu verhöhnen. Lassen Sie uns aus Erbarmen mit ihm für sein
Heil sorgen. -- "Wenn Sie so fortfahren, so gerathen wir in einen
höchst komischen Dialog. Mit der Miene eines Leichenbitters wollen
Sie dem Zeitalter das Lustspiel decretiren!"

Nicht Lustspiel allein! Verstehen wir uns nicht alß! -- Im
Grunde will ich auch keine ausschließliche Nothwendigkeit nachweisen,
nur falsche Möglichkeiten in den Richtungen aufdecken. Hebbel ist
der Meinung, die Charaktere machten lediglich daS Drama. Das
führt in die Shakspeare'sche Form zurück, für welche deutsche Kräfte
schon genug Schulübungen geliefert haben. Hebbel will an dem
Briten nachweisen, wie wenig man auf die Fabel zu geben habe, um
doch dramatisch sein zu können. Shakspeare ist also das Netz in
dem abermals eine großartige Dichterkraft gefangen sitzt! Mittel¬
mäßigkeiten finden sich weit leichter zurecht, um Mittel 'und Zwecke
in Einklang zu bringen. Was auf der heutigen Bühne wirkt, ist
in der That die Fabel des Stückes, ihre Erfindung, aber noch weit
mehr die Dialektik ihrer Entfaltung, die Schürzung und Lösung eines
Knotens. Nicht auf die deutschen und französischen Fabrikanten soll
man Hebbel verweisen, selbst auf Scribe nicht, dessen Meisterschaft
in der Form und Structur des modernen Dramas uns nicht über
den Gehalt seiner Stoffe täuschen sollte. Will Hebbel Autoritäten,
und er stützt sich ja selbst auf Shakspeare, so rufe man ihm die
Alten in die Schranken; die mit Gewalt und zum Hohne deutscher
Produktion von heute aus dem Grabe heraufbeschwomc Antigone


Grtnzlvtcn 10

nöthigen wollen. Und selbst die Form, in der die Franzosen die
europäischen Bühnen beherrschen, kann für uns als eine entlehnte
nicht angepflanzt werden. Wenn sie sich nicht von selbst aus den
uns eigenen Stoffen ergibt, so bleibt sie ohne alle Wirkung, wo es
gilt, die heimische Bühne neu zu gestalten, Literatur und Theater
in eine neue lebendige Wechselwirkung zu bringen. — „Also drama¬
tische Jntriguenspiele thun uns Noth und sind uns Nothwendigkeit!
Aus dem Geiste unsers Zeitalters förmlich nachgewiesen? Es ist
wahr, an Intriguen, deutsch gesagt: Quertreibereien, fehlt es uns
nicht. Nun, dann kämen wir am Ende selbst ohne Freiheit der
Presse zum langersehnten deutschen Lustspiel? Auf dem Wege der
Intrigue!" — Spotten wir nicht, mein Freund! Unser Zeitalter ist
sehr hilfsbedürftig. Rufen wir seinen Geist nicht auf, blos um ihn
zu verhöhnen. Lassen Sie uns aus Erbarmen mit ihm für sein
Heil sorgen. — „Wenn Sie so fortfahren, so gerathen wir in einen
höchst komischen Dialog. Mit der Miene eines Leichenbitters wollen
Sie dem Zeitalter das Lustspiel decretiren!"

Nicht Lustspiel allein! Verstehen wir uns nicht alß! — Im
Grunde will ich auch keine ausschließliche Nothwendigkeit nachweisen,
nur falsche Möglichkeiten in den Richtungen aufdecken. Hebbel ist
der Meinung, die Charaktere machten lediglich daS Drama. Das
führt in die Shakspeare'sche Form zurück, für welche deutsche Kräfte
schon genug Schulübungen geliefert haben. Hebbel will an dem
Briten nachweisen, wie wenig man auf die Fabel zu geben habe, um
doch dramatisch sein zu können. Shakspeare ist also das Netz in
dem abermals eine großartige Dichterkraft gefangen sitzt! Mittel¬
mäßigkeiten finden sich weit leichter zurecht, um Mittel 'und Zwecke
in Einklang zu bringen. Was auf der heutigen Bühne wirkt, ist
in der That die Fabel des Stückes, ihre Erfindung, aber noch weit
mehr die Dialektik ihrer Entfaltung, die Schürzung und Lösung eines
Knotens. Nicht auf die deutschen und französischen Fabrikanten soll
man Hebbel verweisen, selbst auf Scribe nicht, dessen Meisterschaft
in der Form und Structur des modernen Dramas uns nicht über
den Gehalt seiner Stoffe täuschen sollte. Will Hebbel Autoritäten,
und er stützt sich ja selbst auf Shakspeare, so rufe man ihm die
Alten in die Schranken; die mit Gewalt und zum Hohne deutscher
Produktion von heute aus dem Grabe heraufbeschwomc Antigone


Grtnzlvtcn 10
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0125" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/179838"/>
          <p xml:id="ID_356" prev="#ID_355"> nöthigen wollen. Und selbst die Form, in der die Franzosen die<lb/>
europäischen Bühnen beherrschen, kann für uns als eine entlehnte<lb/>
nicht angepflanzt werden. Wenn sie sich nicht von selbst aus den<lb/>
uns eigenen Stoffen ergibt, so bleibt sie ohne alle Wirkung, wo es<lb/>
gilt, die heimische Bühne neu zu gestalten, Literatur und Theater<lb/>
in eine neue lebendige Wechselwirkung zu bringen. &#x2014; &#x201E;Also drama¬<lb/>
tische Jntriguenspiele thun uns Noth und sind uns Nothwendigkeit!<lb/>
Aus dem Geiste unsers Zeitalters förmlich nachgewiesen? Es ist<lb/>
wahr, an Intriguen, deutsch gesagt: Quertreibereien, fehlt es uns<lb/>
nicht. Nun, dann kämen wir am Ende selbst ohne Freiheit der<lb/>
Presse zum langersehnten deutschen Lustspiel? Auf dem Wege der<lb/>
Intrigue!" &#x2014; Spotten wir nicht, mein Freund! Unser Zeitalter ist<lb/>
sehr hilfsbedürftig. Rufen wir seinen Geist nicht auf, blos um ihn<lb/>
zu verhöhnen. Lassen Sie uns aus Erbarmen mit ihm für sein<lb/>
Heil sorgen. &#x2014; &#x201E;Wenn Sie so fortfahren, so gerathen wir in einen<lb/>
höchst komischen Dialog. Mit der Miene eines Leichenbitters wollen<lb/>
Sie dem Zeitalter das Lustspiel decretiren!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_357" next="#ID_358"> Nicht Lustspiel allein! Verstehen wir uns nicht alß! &#x2014; Im<lb/>
Grunde will ich auch keine ausschließliche Nothwendigkeit nachweisen,<lb/>
nur falsche Möglichkeiten in den Richtungen aufdecken. Hebbel ist<lb/>
der Meinung, die Charaktere machten lediglich daS Drama. Das<lb/>
führt in die Shakspeare'sche Form zurück, für welche deutsche Kräfte<lb/>
schon genug Schulübungen geliefert haben. Hebbel will an dem<lb/>
Briten nachweisen, wie wenig man auf die Fabel zu geben habe, um<lb/>
doch dramatisch sein zu können. Shakspeare ist also das Netz in<lb/>
dem abermals eine großartige Dichterkraft gefangen sitzt! Mittel¬<lb/>
mäßigkeiten finden sich weit leichter zurecht, um Mittel 'und Zwecke<lb/>
in Einklang zu bringen. Was auf der heutigen Bühne wirkt, ist<lb/>
in der That die Fabel des Stückes, ihre Erfindung, aber noch weit<lb/>
mehr die Dialektik ihrer Entfaltung, die Schürzung und Lösung eines<lb/>
Knotens. Nicht auf die deutschen und französischen Fabrikanten soll<lb/>
man Hebbel verweisen, selbst auf Scribe nicht, dessen Meisterschaft<lb/>
in der Form und Structur des modernen Dramas uns nicht über<lb/>
den Gehalt seiner Stoffe täuschen sollte. Will Hebbel Autoritäten,<lb/>
und er stützt sich ja selbst auf Shakspeare, so rufe man ihm die<lb/>
Alten in die Schranken; die mit Gewalt und zum Hohne deutscher<lb/>
Produktion von heute aus dem Grabe heraufbeschwomc Antigone</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig"> Grtnzlvtcn 10</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0125] nöthigen wollen. Und selbst die Form, in der die Franzosen die europäischen Bühnen beherrschen, kann für uns als eine entlehnte nicht angepflanzt werden. Wenn sie sich nicht von selbst aus den uns eigenen Stoffen ergibt, so bleibt sie ohne alle Wirkung, wo es gilt, die heimische Bühne neu zu gestalten, Literatur und Theater in eine neue lebendige Wechselwirkung zu bringen. — „Also drama¬ tische Jntriguenspiele thun uns Noth und sind uns Nothwendigkeit! Aus dem Geiste unsers Zeitalters förmlich nachgewiesen? Es ist wahr, an Intriguen, deutsch gesagt: Quertreibereien, fehlt es uns nicht. Nun, dann kämen wir am Ende selbst ohne Freiheit der Presse zum langersehnten deutschen Lustspiel? Auf dem Wege der Intrigue!" — Spotten wir nicht, mein Freund! Unser Zeitalter ist sehr hilfsbedürftig. Rufen wir seinen Geist nicht auf, blos um ihn zu verhöhnen. Lassen Sie uns aus Erbarmen mit ihm für sein Heil sorgen. — „Wenn Sie so fortfahren, so gerathen wir in einen höchst komischen Dialog. Mit der Miene eines Leichenbitters wollen Sie dem Zeitalter das Lustspiel decretiren!" Nicht Lustspiel allein! Verstehen wir uns nicht alß! — Im Grunde will ich auch keine ausschließliche Nothwendigkeit nachweisen, nur falsche Möglichkeiten in den Richtungen aufdecken. Hebbel ist der Meinung, die Charaktere machten lediglich daS Drama. Das führt in die Shakspeare'sche Form zurück, für welche deutsche Kräfte schon genug Schulübungen geliefert haben. Hebbel will an dem Briten nachweisen, wie wenig man auf die Fabel zu geben habe, um doch dramatisch sein zu können. Shakspeare ist also das Netz in dem abermals eine großartige Dichterkraft gefangen sitzt! Mittel¬ mäßigkeiten finden sich weit leichter zurecht, um Mittel 'und Zwecke in Einklang zu bringen. Was auf der heutigen Bühne wirkt, ist in der That die Fabel des Stückes, ihre Erfindung, aber noch weit mehr die Dialektik ihrer Entfaltung, die Schürzung und Lösung eines Knotens. Nicht auf die deutschen und französischen Fabrikanten soll man Hebbel verweisen, selbst auf Scribe nicht, dessen Meisterschaft in der Form und Structur des modernen Dramas uns nicht über den Gehalt seiner Stoffe täuschen sollte. Will Hebbel Autoritäten, und er stützt sich ja selbst auf Shakspeare, so rufe man ihm die Alten in die Schranken; die mit Gewalt und zum Hohne deutscher Produktion von heute aus dem Grabe heraufbeschwomc Antigone Grtnzlvtcn 10

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/125
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/125>, abgerufen am 29.06.2024.