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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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befangen: Muth hat das Zeitalter nicht, weder das Regiment,
das befiehlt, noch die Gesellschaft, die gehorcht und duldet. Wie
viel oder wie wenig unserm Publicum zuzumuthen, darüber sind wir
Alle im Zweifel, aus dem einfachen Grunde, weil wir selbst mehr
oder weniger ein Theil dieses Publicums sind. Zur Entwickelung
einer freien Großthat haben wir die Befähigung verloren. .Und wo
sie sich im Gedicht gestalten will, nimmt sie mit schaudernden Ent¬
zücken die Larve der Carricatur an. Ich muß fortwährend an Grabbc
denken, wenn ich mir die literarisch vereinsamte Gestalt Hebbel's be¬
trachte. Er ist nach seiner innern Empfindung durchaus ein Gegen¬
stück Grabbe's, eben so weich wie jener hart, eben so tiefsinnig zart,
wie jener- grotesk und barock. Aber in ihrer Weltentfremdung sind
sie beide gleich stark und ohne alle Kenntniß der Vorbedingungen
zur Wirksamkeit, ohne alle Fähigkeit, das Zeitalter in seinem eigenen
Nerv zu erfassen. Bei aller Verschiedenheit im Talente und in der
dichterischen Stimmung sind sie in unsern Bestrebungen zwei seltene
Einsiedler.

Hebbel hat eine kleine Broschüre "Mein Wort über das Drama!"
gegeben. Er beklagt sich über den dänischen Professor Heiberg
der das für die Bühne eingerichtete Manuscript der Judith, das der
Theaterdirection von Kopenhagen überreicht wurde, öffentlich, vor
der Aufführung, kritisirte. Nun, das ist bei uns gemüthlichen Deut¬
schen nicht neu. Der gründliche Marggraff, um noch mehr als
gründlich zu sein, sitzt in seiner Bücherschau auch über Handschriften
zu Gericht, die ihm freundschaftlich mitgetheilt wurden, und verwirft
den ersten Entwurf zu einem Drama, unbekümmert über die spätere
Gestaltung, die dasselbe bereits nach seinen ersten Aufführungen erlebte,
um auf dem Wege der Praxis erst der Oeffentlichkeit und seiner
Vollendung entgegcnzureifen. -- Professor Heiberg machte den Holo-
fernes in Hebbel's Judith lächerlich. Dies ist der Punkt, auf den ich
ich hier kommen wollte. "Wie leicht," sagt Hebbel in seiner Bro¬
schüre, "ist nicht ein Holofernes in einer Zeit lächerlich gemacht, wo
es keine römischen Imperatoren mehr gibt, die sich vergöttern lassen!"
-- Also leicht? Das ist ja der traurige Fall der Venrrung, in die
auch Grabbe gerieth. Das beruht auf Unkenntniß der Zeitgenossen,
auf Voraussetzung einer ganz andern Gesittung, ganz andern Den-
kungsart. ES beruht auf dem Verkennen eines menschlichen Maß-


befangen: Muth hat das Zeitalter nicht, weder das Regiment,
das befiehlt, noch die Gesellschaft, die gehorcht und duldet. Wie
viel oder wie wenig unserm Publicum zuzumuthen, darüber sind wir
Alle im Zweifel, aus dem einfachen Grunde, weil wir selbst mehr
oder weniger ein Theil dieses Publicums sind. Zur Entwickelung
einer freien Großthat haben wir die Befähigung verloren. .Und wo
sie sich im Gedicht gestalten will, nimmt sie mit schaudernden Ent¬
zücken die Larve der Carricatur an. Ich muß fortwährend an Grabbc
denken, wenn ich mir die literarisch vereinsamte Gestalt Hebbel's be¬
trachte. Er ist nach seiner innern Empfindung durchaus ein Gegen¬
stück Grabbe's, eben so weich wie jener hart, eben so tiefsinnig zart,
wie jener- grotesk und barock. Aber in ihrer Weltentfremdung sind
sie beide gleich stark und ohne alle Kenntniß der Vorbedingungen
zur Wirksamkeit, ohne alle Fähigkeit, das Zeitalter in seinem eigenen
Nerv zu erfassen. Bei aller Verschiedenheit im Talente und in der
dichterischen Stimmung sind sie in unsern Bestrebungen zwei seltene
Einsiedler.

Hebbel hat eine kleine Broschüre „Mein Wort über das Drama!"
gegeben. Er beklagt sich über den dänischen Professor Heiberg
der das für die Bühne eingerichtete Manuscript der Judith, das der
Theaterdirection von Kopenhagen überreicht wurde, öffentlich, vor
der Aufführung, kritisirte. Nun, das ist bei uns gemüthlichen Deut¬
schen nicht neu. Der gründliche Marggraff, um noch mehr als
gründlich zu sein, sitzt in seiner Bücherschau auch über Handschriften
zu Gericht, die ihm freundschaftlich mitgetheilt wurden, und verwirft
den ersten Entwurf zu einem Drama, unbekümmert über die spätere
Gestaltung, die dasselbe bereits nach seinen ersten Aufführungen erlebte,
um auf dem Wege der Praxis erst der Oeffentlichkeit und seiner
Vollendung entgegcnzureifen. — Professor Heiberg machte den Holo-
fernes in Hebbel's Judith lächerlich. Dies ist der Punkt, auf den ich
ich hier kommen wollte. „Wie leicht," sagt Hebbel in seiner Bro¬
schüre, „ist nicht ein Holofernes in einer Zeit lächerlich gemacht, wo
es keine römischen Imperatoren mehr gibt, die sich vergöttern lassen!"
— Also leicht? Das ist ja der traurige Fall der Venrrung, in die
auch Grabbe gerieth. Das beruht auf Unkenntniß der Zeitgenossen,
auf Voraussetzung einer ganz andern Gesittung, ganz andern Den-
kungsart. ES beruht auf dem Verkennen eines menschlichen Maß-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/121>, abgerufen am 29.06.2024.