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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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das Thema verrückt sich, der Stoff fällt auseinander und selbst Chri¬
stine und ihr Günstling, die uns lediglich im Verlauf beschäftigen,
erleben in ihrem Verhalten zu einander nicht die Wendungen, die
einen stetigen Faden, einen Knoten, der sich schürzte und entwirrte,
noch zuließen. Das Jntriguenspiel zwischen König und Cavalier hätte
Scribe weit schärfer, entscheidender entfaltet und die dritte Figur dazu
nicht fallen lassen. -- Laube hat in der Scriba'schen Kunst hier ei¬
nen Versuch gemacht, auf den gelungenere folgen werden. Vielleicht
ist Rokoko von dieser Art, ein Fortschritt in der Architectur des mo¬
dernen Dramas. Jedenfalls ist es interessant, zu wissen, wo das
Drama mit Laube hinauswill, sollten auch Irrwege nicht erspart
bleiben, die ihn von seinem eigenen Ziel noch wiederholt entfernten.
Möglich, daß für die Wiedergestaltung des deutschen Theaters erst
Styl und Technik aufgefunden werden muß, ehe die Nation mit ih¬
ren Ansprüchen auftritt und über sachlichen und geistigen Inhalt die¬
ser Versuche eine Frage auswirft, die alle Vorstudien zunächst wieder
beseitigt.

Die Irrungen sollen uns nicht die große Sache verleiden. "Die
große Sache?" -- Nun wohl, wie anders soll das Streben bezeich¬
net werden, die deutsche Bühne, diese Pflanzschule der Wildling für
alle Classen, wieder zu einem Nationalausdruck unserer wichtigsten
Interessen zu machen!

Lassen Sie uns an einem dritten Dichter seine Irrthümer be¬
trachten, die er praktisch und theoretisch an den Tag gelegt. Ich
weiß nicht, ob Irrungen nicht überhaupt nur Nüancen der Wahr¬
heit sind. Hier aber spreche ich von einem wahrhaften Dichter,
dessen dramatische Irrthümer mehr werth sind, als alle bisherigen
Bühnenerfolge der heutigen Dramatiker. Ich meine Friedrich
Hebbel. Seine Gedichte sind bühnenwidrig, aber es find Ge¬
dichte. Die Versuche in Hamburg und Berlin, feine Judith auf
den Brettern zur Erscheinung zu bringen, haben deutlich gezeigt, in
welchem doppelten colossalen Irrthum Hebbel befangen ist. Er irrt
sich in der dramatischen Nothwendigkeit und in den theatralischen
Möglichkeiten. Er irrt sich auch noch in vielen andern Punkten,
vornehmlich im Publicum, das das Erhabene in der Form des Ent¬
setzlichen nicht mehr erträglich findet. Ich weiß nicht, ist die Bil¬
dung von heute zu feige, zu weichlich, zu sehr in versteckter Sünde


das Thema verrückt sich, der Stoff fällt auseinander und selbst Chri¬
stine und ihr Günstling, die uns lediglich im Verlauf beschäftigen,
erleben in ihrem Verhalten zu einander nicht die Wendungen, die
einen stetigen Faden, einen Knoten, der sich schürzte und entwirrte,
noch zuließen. Das Jntriguenspiel zwischen König und Cavalier hätte
Scribe weit schärfer, entscheidender entfaltet und die dritte Figur dazu
nicht fallen lassen. — Laube hat in der Scriba'schen Kunst hier ei¬
nen Versuch gemacht, auf den gelungenere folgen werden. Vielleicht
ist Rokoko von dieser Art, ein Fortschritt in der Architectur des mo¬
dernen Dramas. Jedenfalls ist es interessant, zu wissen, wo das
Drama mit Laube hinauswill, sollten auch Irrwege nicht erspart
bleiben, die ihn von seinem eigenen Ziel noch wiederholt entfernten.
Möglich, daß für die Wiedergestaltung des deutschen Theaters erst
Styl und Technik aufgefunden werden muß, ehe die Nation mit ih¬
ren Ansprüchen auftritt und über sachlichen und geistigen Inhalt die¬
ser Versuche eine Frage auswirft, die alle Vorstudien zunächst wieder
beseitigt.

Die Irrungen sollen uns nicht die große Sache verleiden. „Die
große Sache?" — Nun wohl, wie anders soll das Streben bezeich¬
net werden, die deutsche Bühne, diese Pflanzschule der Wildling für
alle Classen, wieder zu einem Nationalausdruck unserer wichtigsten
Interessen zu machen!

Lassen Sie uns an einem dritten Dichter seine Irrthümer be¬
trachten, die er praktisch und theoretisch an den Tag gelegt. Ich
weiß nicht, ob Irrungen nicht überhaupt nur Nüancen der Wahr¬
heit sind. Hier aber spreche ich von einem wahrhaften Dichter,
dessen dramatische Irrthümer mehr werth sind, als alle bisherigen
Bühnenerfolge der heutigen Dramatiker. Ich meine Friedrich
Hebbel. Seine Gedichte sind bühnenwidrig, aber es find Ge¬
dichte. Die Versuche in Hamburg und Berlin, feine Judith auf
den Brettern zur Erscheinung zu bringen, haben deutlich gezeigt, in
welchem doppelten colossalen Irrthum Hebbel befangen ist. Er irrt
sich in der dramatischen Nothwendigkeit und in den theatralischen
Möglichkeiten. Er irrt sich auch noch in vielen andern Punkten,
vornehmlich im Publicum, das das Erhabene in der Form des Ent¬
setzlichen nicht mehr erträglich findet. Ich weiß nicht, ist die Bil¬
dung von heute zu feige, zu weichlich, zu sehr in versteckter Sünde


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[0120] das Thema verrückt sich, der Stoff fällt auseinander und selbst Chri¬ stine und ihr Günstling, die uns lediglich im Verlauf beschäftigen, erleben in ihrem Verhalten zu einander nicht die Wendungen, die einen stetigen Faden, einen Knoten, der sich schürzte und entwirrte, noch zuließen. Das Jntriguenspiel zwischen König und Cavalier hätte Scribe weit schärfer, entscheidender entfaltet und die dritte Figur dazu nicht fallen lassen. — Laube hat in der Scriba'schen Kunst hier ei¬ nen Versuch gemacht, auf den gelungenere folgen werden. Vielleicht ist Rokoko von dieser Art, ein Fortschritt in der Architectur des mo¬ dernen Dramas. Jedenfalls ist es interessant, zu wissen, wo das Drama mit Laube hinauswill, sollten auch Irrwege nicht erspart bleiben, die ihn von seinem eigenen Ziel noch wiederholt entfernten. Möglich, daß für die Wiedergestaltung des deutschen Theaters erst Styl und Technik aufgefunden werden muß, ehe die Nation mit ih¬ ren Ansprüchen auftritt und über sachlichen und geistigen Inhalt die¬ ser Versuche eine Frage auswirft, die alle Vorstudien zunächst wieder beseitigt. Die Irrungen sollen uns nicht die große Sache verleiden. „Die große Sache?" — Nun wohl, wie anders soll das Streben bezeich¬ net werden, die deutsche Bühne, diese Pflanzschule der Wildling für alle Classen, wieder zu einem Nationalausdruck unserer wichtigsten Interessen zu machen! Lassen Sie uns an einem dritten Dichter seine Irrthümer be¬ trachten, die er praktisch und theoretisch an den Tag gelegt. Ich weiß nicht, ob Irrungen nicht überhaupt nur Nüancen der Wahr¬ heit sind. Hier aber spreche ich von einem wahrhaften Dichter, dessen dramatische Irrthümer mehr werth sind, als alle bisherigen Bühnenerfolge der heutigen Dramatiker. Ich meine Friedrich Hebbel. Seine Gedichte sind bühnenwidrig, aber es find Ge¬ dichte. Die Versuche in Hamburg und Berlin, feine Judith auf den Brettern zur Erscheinung zu bringen, haben deutlich gezeigt, in welchem doppelten colossalen Irrthum Hebbel befangen ist. Er irrt sich in der dramatischen Nothwendigkeit und in den theatralischen Möglichkeiten. Er irrt sich auch noch in vielen andern Punkten, vornehmlich im Publicum, das das Erhabene in der Form des Ent¬ setzlichen nicht mehr erträglich findet. Ich weiß nicht, ist die Bil¬ dung von heute zu feige, zu weichlich, zu sehr in versteckter Sünde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/120>, abgerufen am 28.09.2024.