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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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die der Fortschritt deutscher Literatur in Böhmen einschlägt. Hare-
m<an und Meißner sind sehr glückliche lyrische Talente. Auch sie
haben nie ein eigentliches Lied geschrieben, was man sonst nur den
Norddeutschen erlassen will. Singe, wem Gesang gegeben! sagt Ah"
land. ES wird jetzt in Deutschland überhaupt wenig gesungen,
wenn auch zu viel geschrieben; und hat doch selbst Grün, der heitere,
vorzugsweise österreichische Sänger vor lauter Gedankenarbeit nicht
den leichten Biedersinn' gewinnen können. Der Deutsche in Böhmen
gar muß sich sein Deutschthum erst erobern, und er fühlt, daß er
dies nicht durch längst abgeleierte Variationen und Modulationen
kann; daß er sich mit dem Jdecninhalt einer neuen Zeit zu erfüllen
suchen muß. Was diese beiden jungen Poeten vor dem großen Haufen
gebildeter Versmacher besonders auszeichnet, ist eine Tiefe der Reflexion,
die sonst in Oestreich für unerhört, wo nicht für unerlaubt ge¬
golten hätte. -- Wir vermissen hier auch mit Bedauern den Na¬
men Jsidor Heller, der in einzelnen, in Journalen zerstreuten
Aufsätzen mehr Anlagen zu einem tüchtigen Prosaiker verräth, als
man sonst, nicht nur in der böhmischen, sondern in der österreichischen
Literatur überhaupt findet. Die österreichische Prosa neigt in der
Regel mehr zum Schwulst als zur Klarheit; Lyrik, Reflexion, Kritik,
Witz und Humor, dies Alles findet man oft bei dem talentvollsten
Prosaiker in unförmlicher, wüster Gährung begriffen, von keinem lei¬
tenden, vorwaltenden Gedanken beherrscht. In Heller's prosaischen
Aufsätzen fanden wir stets Grazie, Humor und Reichthum der An¬
schauungen, dabei eine gewisse Sicherheit und überlegene Entschie¬
denheit im Ausdruck.

Die "Libussa" hat das Ihrige gethan, um auch die böhmische Prosa
zu vertreten. Sie bringt mehr oder minder verunglückte historische und
sociale Novellen von Seidl, Marrheim und Seidlitz. Seltsam ist
daß diese Herren von der Feder in ihrer Prosa sämmtlich vor einem
-- Maler zurückstehen, vor Führich, dessen Selbstbiographie nicht
nur in psychologischer und kunstgeschichtKcher Hinsicht von höchstem
Interesse, sondern auch als stylistische Arbeit beachtungswerth ist. Die edle
Ruhe, die klare Anschaulichkeit, bei lebendigster Bewegung, und das
glühende Colorit seiner Schilderungen verrathen überall den Künst¬
ler. Sonst führt uns diese Selbstbiographie einen der merkwürdig¬
sten modernen Malercharaktere vor. Ich zweifle sehr, ob Raphael


die der Fortschritt deutscher Literatur in Böhmen einschlägt. Hare-
m<an und Meißner sind sehr glückliche lyrische Talente. Auch sie
haben nie ein eigentliches Lied geschrieben, was man sonst nur den
Norddeutschen erlassen will. Singe, wem Gesang gegeben! sagt Ah»
land. ES wird jetzt in Deutschland überhaupt wenig gesungen,
wenn auch zu viel geschrieben; und hat doch selbst Grün, der heitere,
vorzugsweise österreichische Sänger vor lauter Gedankenarbeit nicht
den leichten Biedersinn' gewinnen können. Der Deutsche in Böhmen
gar muß sich sein Deutschthum erst erobern, und er fühlt, daß er
dies nicht durch längst abgeleierte Variationen und Modulationen
kann; daß er sich mit dem Jdecninhalt einer neuen Zeit zu erfüllen
suchen muß. Was diese beiden jungen Poeten vor dem großen Haufen
gebildeter Versmacher besonders auszeichnet, ist eine Tiefe der Reflexion,
die sonst in Oestreich für unerhört, wo nicht für unerlaubt ge¬
golten hätte. — Wir vermissen hier auch mit Bedauern den Na¬
men Jsidor Heller, der in einzelnen, in Journalen zerstreuten
Aufsätzen mehr Anlagen zu einem tüchtigen Prosaiker verräth, als
man sonst, nicht nur in der böhmischen, sondern in der österreichischen
Literatur überhaupt findet. Die österreichische Prosa neigt in der
Regel mehr zum Schwulst als zur Klarheit; Lyrik, Reflexion, Kritik,
Witz und Humor, dies Alles findet man oft bei dem talentvollsten
Prosaiker in unförmlicher, wüster Gährung begriffen, von keinem lei¬
tenden, vorwaltenden Gedanken beherrscht. In Heller's prosaischen
Aufsätzen fanden wir stets Grazie, Humor und Reichthum der An¬
schauungen, dabei eine gewisse Sicherheit und überlegene Entschie¬
denheit im Ausdruck.

Die „Libussa" hat das Ihrige gethan, um auch die böhmische Prosa
zu vertreten. Sie bringt mehr oder minder verunglückte historische und
sociale Novellen von Seidl, Marrheim und Seidlitz. Seltsam ist
daß diese Herren von der Feder in ihrer Prosa sämmtlich vor einem
— Maler zurückstehen, vor Führich, dessen Selbstbiographie nicht
nur in psychologischer und kunstgeschichtKcher Hinsicht von höchstem
Interesse, sondern auch als stylistische Arbeit beachtungswerth ist. Die edle
Ruhe, die klare Anschaulichkeit, bei lebendigster Bewegung, und das
glühende Colorit seiner Schilderungen verrathen überall den Künst¬
ler. Sonst führt uns diese Selbstbiographie einen der merkwürdig¬
sten modernen Malercharaktere vor. Ich zweifle sehr, ob Raphael


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[0107] die der Fortschritt deutscher Literatur in Böhmen einschlägt. Hare- m<an und Meißner sind sehr glückliche lyrische Talente. Auch sie haben nie ein eigentliches Lied geschrieben, was man sonst nur den Norddeutschen erlassen will. Singe, wem Gesang gegeben! sagt Ah» land. ES wird jetzt in Deutschland überhaupt wenig gesungen, wenn auch zu viel geschrieben; und hat doch selbst Grün, der heitere, vorzugsweise österreichische Sänger vor lauter Gedankenarbeit nicht den leichten Biedersinn' gewinnen können. Der Deutsche in Böhmen gar muß sich sein Deutschthum erst erobern, und er fühlt, daß er dies nicht durch längst abgeleierte Variationen und Modulationen kann; daß er sich mit dem Jdecninhalt einer neuen Zeit zu erfüllen suchen muß. Was diese beiden jungen Poeten vor dem großen Haufen gebildeter Versmacher besonders auszeichnet, ist eine Tiefe der Reflexion, die sonst in Oestreich für unerhört, wo nicht für unerlaubt ge¬ golten hätte. — Wir vermissen hier auch mit Bedauern den Na¬ men Jsidor Heller, der in einzelnen, in Journalen zerstreuten Aufsätzen mehr Anlagen zu einem tüchtigen Prosaiker verräth, als man sonst, nicht nur in der böhmischen, sondern in der österreichischen Literatur überhaupt findet. Die österreichische Prosa neigt in der Regel mehr zum Schwulst als zur Klarheit; Lyrik, Reflexion, Kritik, Witz und Humor, dies Alles findet man oft bei dem talentvollsten Prosaiker in unförmlicher, wüster Gährung begriffen, von keinem lei¬ tenden, vorwaltenden Gedanken beherrscht. In Heller's prosaischen Aufsätzen fanden wir stets Grazie, Humor und Reichthum der An¬ schauungen, dabei eine gewisse Sicherheit und überlegene Entschie¬ denheit im Ausdruck. Die „Libussa" hat das Ihrige gethan, um auch die böhmische Prosa zu vertreten. Sie bringt mehr oder minder verunglückte historische und sociale Novellen von Seidl, Marrheim und Seidlitz. Seltsam ist daß diese Herren von der Feder in ihrer Prosa sämmtlich vor einem — Maler zurückstehen, vor Führich, dessen Selbstbiographie nicht nur in psychologischer und kunstgeschichtKcher Hinsicht von höchstem Interesse, sondern auch als stylistische Arbeit beachtungswerth ist. Die edle Ruhe, die klare Anschaulichkeit, bei lebendigster Bewegung, und das glühende Colorit seiner Schilderungen verrathen überall den Künst¬ ler. Sonst führt uns diese Selbstbiographie einen der merkwürdig¬ sten modernen Malercharaktere vor. Ich zweifle sehr, ob Raphael

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/107>, abgerufen am 29.06.2024.