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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Bildung, oder wenn sie wirklich dem Schooße der Natur entquollen
sind, so winden und stürzen sie sich, von Klippen und Wildniß ein¬
geengt, durch die Einsamkeit, erschöpfen ihre Kraft in kurzem Kampf
und finden nicht den Lauf durch die Berge zu einer großen Mündung.
-- Lassen wir die Bilder, aber bleiben wir bei der Betrachtung der
deutschen Lyrik in Prag, nicht nur weil eine gedankenschwere und
fvrmleichte Prosa, diese späteste Frucht des reifen Geistes, in der
österreichischen Literatur überhaupt, folglich auch in der böhmischen
erst im Werden ist; sondern weil die Lyrik, als die ursprünglichste
poetische Regung, am sichersten verräth, weß Geistes Kind ein Volk,
welchem Boden und welchen Quellen sein tiefstes Leben entsprossen
sei. Man wird nicht verlangen, daß wir auf jedes einzelne Gedicht
in der "Libussa" besonders eingehen; doch gewiß wird der Unbefan-
gene nut uns darin übereinstimmen, daß trotz der geläufigen Gemüth¬
lichkeit Seidl's-i-), trotz Fränkl's und Braunthal's geschmack¬
voller Diction, trotz ver sinnigen und phantasievvllen Malerei Hans-
girg's, ja auch trotz der schönen Sonnette Ebert's, diese ganze
Fülle von Lyrik mehr Herbarium ist, als Blüthenhain. Die Blumen
mögen von schönster und zartester Form sein, aber sie find verdorrt,
ihr Duft ist gräberlich: sie regen sich nicht und rauschen nicht, denn
es fehlt auch der leiseste Hauch eines Volksgeistes in diesem stillen
Kunstgärten, mit einem Wort, es fehlt das Leben. Wir haben nicht
vergessen, in Anschlag zu bringen, was etwa auf die innere Armuth
zufälliger Mitarbeiter oder auf die gewöhnliche Entstehungsart von
Beiträgen zu einem wohlthätigen Zweck zu schieben sein mag. Auch
ist nicht Talentlosigkeit der hervorstechende Zug. Gewiß, eS werden
in Deutschland jährlich ganze Bibliotheken voll zehnmal talent- und
kunstloserer Lyrik gedruckt; wenn sich die "werdelustigen" Hallenser
oder die kritisirenden jungen Literaten Berlins zu einem lyrischen Al¬
manach zusammenthun, so wird bei Weitem weniger Geschmack, Bil¬
dung und äußere Formschönheit, aber selbst bei den rohesten Aus¬
wüchsen und dem schülerhaftesten Singsang mehr Naturlaut, Volksgeist
und Lebensgehalt an den Tag kommen. Hier dagegen, welche hoff¬
nungslose Schwindsüchtigkeit, welche Sehnsucht nach Stoff, welches
Schmachten nach einem poetischen Erlebniß blickt uns aus zierlich gehn-



*) Seidl ist übngeuS mehr Oesterreicher und Steiermärker, al" Böhme'
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Bildung, oder wenn sie wirklich dem Schooße der Natur entquollen
sind, so winden und stürzen sie sich, von Klippen und Wildniß ein¬
geengt, durch die Einsamkeit, erschöpfen ihre Kraft in kurzem Kampf
und finden nicht den Lauf durch die Berge zu einer großen Mündung.
— Lassen wir die Bilder, aber bleiben wir bei der Betrachtung der
deutschen Lyrik in Prag, nicht nur weil eine gedankenschwere und
fvrmleichte Prosa, diese späteste Frucht des reifen Geistes, in der
österreichischen Literatur überhaupt, folglich auch in der böhmischen
erst im Werden ist; sondern weil die Lyrik, als die ursprünglichste
poetische Regung, am sichersten verräth, weß Geistes Kind ein Volk,
welchem Boden und welchen Quellen sein tiefstes Leben entsprossen
sei. Man wird nicht verlangen, daß wir auf jedes einzelne Gedicht
in der „Libussa" besonders eingehen; doch gewiß wird der Unbefan-
gene nut uns darin übereinstimmen, daß trotz der geläufigen Gemüth¬
lichkeit Seidl's-i-), trotz Fränkl's und Braunthal's geschmack¬
voller Diction, trotz ver sinnigen und phantasievvllen Malerei Hans-
girg's, ja auch trotz der schönen Sonnette Ebert's, diese ganze
Fülle von Lyrik mehr Herbarium ist, als Blüthenhain. Die Blumen
mögen von schönster und zartester Form sein, aber sie find verdorrt,
ihr Duft ist gräberlich: sie regen sich nicht und rauschen nicht, denn
es fehlt auch der leiseste Hauch eines Volksgeistes in diesem stillen
Kunstgärten, mit einem Wort, es fehlt das Leben. Wir haben nicht
vergessen, in Anschlag zu bringen, was etwa auf die innere Armuth
zufälliger Mitarbeiter oder auf die gewöhnliche Entstehungsart von
Beiträgen zu einem wohlthätigen Zweck zu schieben sein mag. Auch
ist nicht Talentlosigkeit der hervorstechende Zug. Gewiß, eS werden
in Deutschland jährlich ganze Bibliotheken voll zehnmal talent- und
kunstloserer Lyrik gedruckt; wenn sich die „werdelustigen" Hallenser
oder die kritisirenden jungen Literaten Berlins zu einem lyrischen Al¬
manach zusammenthun, so wird bei Weitem weniger Geschmack, Bil¬
dung und äußere Formschönheit, aber selbst bei den rohesten Aus¬
wüchsen und dem schülerhaftesten Singsang mehr Naturlaut, Volksgeist
und Lebensgehalt an den Tag kommen. Hier dagegen, welche hoff¬
nungslose Schwindsüchtigkeit, welche Sehnsucht nach Stoff, welches
Schmachten nach einem poetischen Erlebniß blickt uns aus zierlich gehn-



*) Seidl ist übngeuS mehr Oesterreicher und Steiermärker, al» Böhme'
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[0103] Bildung, oder wenn sie wirklich dem Schooße der Natur entquollen sind, so winden und stürzen sie sich, von Klippen und Wildniß ein¬ geengt, durch die Einsamkeit, erschöpfen ihre Kraft in kurzem Kampf und finden nicht den Lauf durch die Berge zu einer großen Mündung. — Lassen wir die Bilder, aber bleiben wir bei der Betrachtung der deutschen Lyrik in Prag, nicht nur weil eine gedankenschwere und fvrmleichte Prosa, diese späteste Frucht des reifen Geistes, in der österreichischen Literatur überhaupt, folglich auch in der böhmischen erst im Werden ist; sondern weil die Lyrik, als die ursprünglichste poetische Regung, am sichersten verräth, weß Geistes Kind ein Volk, welchem Boden und welchen Quellen sein tiefstes Leben entsprossen sei. Man wird nicht verlangen, daß wir auf jedes einzelne Gedicht in der „Libussa" besonders eingehen; doch gewiß wird der Unbefan- gene nut uns darin übereinstimmen, daß trotz der geläufigen Gemüth¬ lichkeit Seidl's-i-), trotz Fränkl's und Braunthal's geschmack¬ voller Diction, trotz ver sinnigen und phantasievvllen Malerei Hans- girg's, ja auch trotz der schönen Sonnette Ebert's, diese ganze Fülle von Lyrik mehr Herbarium ist, als Blüthenhain. Die Blumen mögen von schönster und zartester Form sein, aber sie find verdorrt, ihr Duft ist gräberlich: sie regen sich nicht und rauschen nicht, denn es fehlt auch der leiseste Hauch eines Volksgeistes in diesem stillen Kunstgärten, mit einem Wort, es fehlt das Leben. Wir haben nicht vergessen, in Anschlag zu bringen, was etwa auf die innere Armuth zufälliger Mitarbeiter oder auf die gewöhnliche Entstehungsart von Beiträgen zu einem wohlthätigen Zweck zu schieben sein mag. Auch ist nicht Talentlosigkeit der hervorstechende Zug. Gewiß, eS werden in Deutschland jährlich ganze Bibliotheken voll zehnmal talent- und kunstloserer Lyrik gedruckt; wenn sich die „werdelustigen" Hallenser oder die kritisirenden jungen Literaten Berlins zu einem lyrischen Al¬ manach zusammenthun, so wird bei Weitem weniger Geschmack, Bil¬ dung und äußere Formschönheit, aber selbst bei den rohesten Aus¬ wüchsen und dem schülerhaftesten Singsang mehr Naturlaut, Volksgeist und Lebensgehalt an den Tag kommen. Hier dagegen, welche hoff¬ nungslose Schwindsüchtigkeit, welche Sehnsucht nach Stoff, welches Schmachten nach einem poetischen Erlebniß blickt uns aus zierlich gehn- *) Seidl ist übngeuS mehr Oesterreicher und Steiermärker, al» Böhme' 13»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/103>, abgerufen am 29.06.2024.