Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

ten, daß in Deutschland die Dichter wirklich für die höhere Bildung der
Nation den Ton angegeben'haben. Unabhängig von Höfen und vom
Hofgeschmack, von fremden Einflüssen mehr angeregt, als bevormundet,
im Dienste keiner Staats- oder Religionspartei, hat sich die deutsche
Dichtung als ein Erzeugniß des Volles erhoben, und die großen Re¬
präsentanten unserer poetischen Geschichte gehören unmittelbar und un¬
verfälscht dein Volke, oder doch demjenigen Theile desselben an, der für
die Produktionen der Poesie wahre Empfänglichkeit besitzt. Durch diese
Unabhängige Stellung hat die deutsche Dichtung nur eine desto dauer¬
haftere Wirksamkeit erlangt, und man würde sehr fehlgehn, wenn man
annähme, daß unsere Sänger zu der realen Welt keine innige Beziehung
haben. Freilich ist ihre Beziehung die eines Dichters, nicht die eines
Staatsmannes, eines Publicisten oder WissenschaftSlchrerS, -- wie Manche,
denen die Kunst nur als Mittel gilt, es zu verlangen scheinen; aber
das Wort des Dichters dringt unfehlbar in die Gemüther ein, es be"
feuert und erfüllt die Jugend, und verleihet unserm ganzen Leben eine
höhere Weihe. Wir mögen es dem Auslande nachsehen, wenn eS uns,
die es mehr von: Hörensagen als aus der Erfahrung kennt, für ein be¬
schaulich träumerisches Volk erklärt, und sich einbildet, unser deutscher
Gesang banne uns in die abgelegenen Regionen des Gefühls und schwär¬
mender Phantasie. Ist doch in den neueren Zeiten, in keinem Lande,
wie bei uns, die Dichtung so tief und segenbringend in das Leben, in
Herz und Gesinnung aller Klassen gedrungen. Wenn unsere Dichter sich
begnügt haben, auf sittlichem, ästhetischem und intellectuellen Wege auf
die Nation einzuwirken, und sich von den augenblicklichen Bewegungen
im Volke entfernter hielten, so wird man ihnen daraus nur dann einen
Vorwurf herleiten, wenn Man das eigne Wesen der Poesie verkennt,
und übersieht, daß jene Wirkungsart die allermächtigste und würdigste
ist. ' In diesem Betracht wird man auch gegen deö Verfassers oft
blos praktische Grundsätze manches einzuwenden haben.

Indem Gervinus von seinem allgemeingeschichtlichen Gesichtspunkte
aus, beständig die Wechselbeziehung des dichtenden und realen Geistes
festhält, richtet er sein Augenmerk vorzugsweise auf die Gesinnung,
auf den sittlichen und'nationalen Werth, der sich in den Schöp¬
fungen der Dichter ausspricht; er faßt die Dichter an wie öffentliche
Charaktere, und schätzt sie vor Allem nach der Art, wie sie zu dem
sittlichen Staate, zu der Gesellschaft, z'u den: Culturstande des Vol¬
kes sich verhalten haben. Mit dieser Hinsicht wird Lessing mit Recht


ten, daß in Deutschland die Dichter wirklich für die höhere Bildung der
Nation den Ton angegeben'haben. Unabhängig von Höfen und vom
Hofgeschmack, von fremden Einflüssen mehr angeregt, als bevormundet,
im Dienste keiner Staats- oder Religionspartei, hat sich die deutsche
Dichtung als ein Erzeugniß des Volles erhoben, und die großen Re¬
präsentanten unserer poetischen Geschichte gehören unmittelbar und un¬
verfälscht dein Volke, oder doch demjenigen Theile desselben an, der für
die Produktionen der Poesie wahre Empfänglichkeit besitzt. Durch diese
Unabhängige Stellung hat die deutsche Dichtung nur eine desto dauer¬
haftere Wirksamkeit erlangt, und man würde sehr fehlgehn, wenn man
annähme, daß unsere Sänger zu der realen Welt keine innige Beziehung
haben. Freilich ist ihre Beziehung die eines Dichters, nicht die eines
Staatsmannes, eines Publicisten oder WissenschaftSlchrerS, — wie Manche,
denen die Kunst nur als Mittel gilt, es zu verlangen scheinen; aber
das Wort des Dichters dringt unfehlbar in die Gemüther ein, es be»
feuert und erfüllt die Jugend, und verleihet unserm ganzen Leben eine
höhere Weihe. Wir mögen es dem Auslande nachsehen, wenn eS uns,
die es mehr von: Hörensagen als aus der Erfahrung kennt, für ein be¬
schaulich träumerisches Volk erklärt, und sich einbildet, unser deutscher
Gesang banne uns in die abgelegenen Regionen des Gefühls und schwär¬
mender Phantasie. Ist doch in den neueren Zeiten, in keinem Lande,
wie bei uns, die Dichtung so tief und segenbringend in das Leben, in
Herz und Gesinnung aller Klassen gedrungen. Wenn unsere Dichter sich
begnügt haben, auf sittlichem, ästhetischem und intellectuellen Wege auf
die Nation einzuwirken, und sich von den augenblicklichen Bewegungen
im Volke entfernter hielten, so wird man ihnen daraus nur dann einen
Vorwurf herleiten, wenn Man das eigne Wesen der Poesie verkennt,
und übersieht, daß jene Wirkungsart die allermächtigste und würdigste
ist. ' In diesem Betracht wird man auch gegen deö Verfassers oft
blos praktische Grundsätze manches einzuwenden haben.

Indem Gervinus von seinem allgemeingeschichtlichen Gesichtspunkte
aus, beständig die Wechselbeziehung des dichtenden und realen Geistes
festhält, richtet er sein Augenmerk vorzugsweise auf die Gesinnung,
auf den sittlichen und'nationalen Werth, der sich in den Schöp¬
fungen der Dichter ausspricht; er faßt die Dichter an wie öffentliche
Charaktere, und schätzt sie vor Allem nach der Art, wie sie zu dem
sittlichen Staate, zu der Gesellschaft, z'u den: Culturstande des Vol¬
kes sich verhalten haben. Mit dieser Hinsicht wird Lessing mit Recht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0091" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/267306"/>
            <p xml:id="ID_624" prev="#ID_623"> ten, daß in Deutschland die Dichter wirklich für die höhere Bildung der<lb/>
Nation den Ton angegeben'haben. Unabhängig von Höfen und vom<lb/>
Hofgeschmack, von fremden Einflüssen mehr angeregt, als bevormundet,<lb/>
im Dienste keiner Staats- oder Religionspartei, hat sich die deutsche<lb/>
Dichtung als ein Erzeugniß des Volles erhoben, und die großen Re¬<lb/>
präsentanten unserer poetischen Geschichte gehören unmittelbar und un¬<lb/>
verfälscht dein Volke, oder doch demjenigen Theile desselben an, der für<lb/>
die Produktionen der Poesie wahre Empfänglichkeit besitzt. Durch diese<lb/>
Unabhängige Stellung hat die deutsche Dichtung nur eine desto dauer¬<lb/>
haftere Wirksamkeit erlangt, und man würde sehr fehlgehn, wenn man<lb/>
annähme, daß unsere Sänger zu der realen Welt keine innige Beziehung<lb/>
haben. Freilich ist ihre Beziehung die eines Dichters, nicht die eines<lb/>
Staatsmannes, eines Publicisten oder WissenschaftSlchrerS, &#x2014; wie Manche,<lb/>
denen die Kunst nur als Mittel gilt, es zu verlangen scheinen; aber<lb/>
das Wort des Dichters dringt unfehlbar in die Gemüther ein, es be»<lb/>
feuert und erfüllt die Jugend, und verleihet unserm ganzen Leben eine<lb/>
höhere Weihe. Wir mögen es dem Auslande nachsehen, wenn eS uns,<lb/>
die es mehr von: Hörensagen als aus der Erfahrung kennt, für ein be¬<lb/>
schaulich träumerisches Volk erklärt, und sich einbildet, unser deutscher<lb/>
Gesang banne uns in die abgelegenen Regionen des Gefühls und schwär¬<lb/>
mender Phantasie. Ist doch in den neueren Zeiten, in keinem Lande,<lb/>
wie bei uns, die Dichtung so tief und segenbringend in das Leben, in<lb/>
Herz und Gesinnung aller Klassen gedrungen. Wenn unsere Dichter sich<lb/>
begnügt haben, auf sittlichem, ästhetischem und intellectuellen Wege auf<lb/>
die Nation einzuwirken, und sich von den augenblicklichen Bewegungen<lb/>
im Volke entfernter hielten, so wird man ihnen daraus nur dann einen<lb/>
Vorwurf herleiten, wenn Man das eigne Wesen der Poesie verkennt,<lb/>
und übersieht, daß jene Wirkungsart die allermächtigste und würdigste<lb/>
ist. ' In diesem Betracht wird man auch gegen deö Verfassers oft<lb/>
blos praktische Grundsätze manches einzuwenden haben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_625" next="#ID_626"> Indem Gervinus von seinem allgemeingeschichtlichen Gesichtspunkte<lb/>
aus, beständig die Wechselbeziehung des dichtenden und realen Geistes<lb/>
festhält, richtet er sein Augenmerk vorzugsweise auf die Gesinnung,<lb/>
auf den sittlichen und'nationalen Werth, der sich in den Schöp¬<lb/>
fungen der Dichter ausspricht; er faßt die Dichter an wie öffentliche<lb/>
Charaktere, und schätzt sie vor Allem nach der Art, wie sie zu dem<lb/>
sittlichen Staate, zu der Gesellschaft, z'u den: Culturstande des Vol¬<lb/>
kes sich verhalten haben. Mit dieser Hinsicht wird Lessing mit Recht</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0091] ten, daß in Deutschland die Dichter wirklich für die höhere Bildung der Nation den Ton angegeben'haben. Unabhängig von Höfen und vom Hofgeschmack, von fremden Einflüssen mehr angeregt, als bevormundet, im Dienste keiner Staats- oder Religionspartei, hat sich die deutsche Dichtung als ein Erzeugniß des Volles erhoben, und die großen Re¬ präsentanten unserer poetischen Geschichte gehören unmittelbar und un¬ verfälscht dein Volke, oder doch demjenigen Theile desselben an, der für die Produktionen der Poesie wahre Empfänglichkeit besitzt. Durch diese Unabhängige Stellung hat die deutsche Dichtung nur eine desto dauer¬ haftere Wirksamkeit erlangt, und man würde sehr fehlgehn, wenn man annähme, daß unsere Sänger zu der realen Welt keine innige Beziehung haben. Freilich ist ihre Beziehung die eines Dichters, nicht die eines Staatsmannes, eines Publicisten oder WissenschaftSlchrerS, — wie Manche, denen die Kunst nur als Mittel gilt, es zu verlangen scheinen; aber das Wort des Dichters dringt unfehlbar in die Gemüther ein, es be» feuert und erfüllt die Jugend, und verleihet unserm ganzen Leben eine höhere Weihe. Wir mögen es dem Auslande nachsehen, wenn eS uns, die es mehr von: Hörensagen als aus der Erfahrung kennt, für ein be¬ schaulich träumerisches Volk erklärt, und sich einbildet, unser deutscher Gesang banne uns in die abgelegenen Regionen des Gefühls und schwär¬ mender Phantasie. Ist doch in den neueren Zeiten, in keinem Lande, wie bei uns, die Dichtung so tief und segenbringend in das Leben, in Herz und Gesinnung aller Klassen gedrungen. Wenn unsere Dichter sich begnügt haben, auf sittlichem, ästhetischem und intellectuellen Wege auf die Nation einzuwirken, und sich von den augenblicklichen Bewegungen im Volke entfernter hielten, so wird man ihnen daraus nur dann einen Vorwurf herleiten, wenn Man das eigne Wesen der Poesie verkennt, und übersieht, daß jene Wirkungsart die allermächtigste und würdigste ist. ' In diesem Betracht wird man auch gegen deö Verfassers oft blos praktische Grundsätze manches einzuwenden haben. Indem Gervinus von seinem allgemeingeschichtlichen Gesichtspunkte aus, beständig die Wechselbeziehung des dichtenden und realen Geistes festhält, richtet er sein Augenmerk vorzugsweise auf die Gesinnung, auf den sittlichen und'nationalen Werth, der sich in den Schöp¬ fungen der Dichter ausspricht; er faßt die Dichter an wie öffentliche Charaktere, und schätzt sie vor Allem nach der Art, wie sie zu dem sittlichen Staate, zu der Gesellschaft, z'u den: Culturstande des Vol¬ kes sich verhalten haben. Mit dieser Hinsicht wird Lessing mit Recht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/91
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/91>, abgerufen am 23.07.2024.