Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

mit die Umwelt gegen das Individuum stößt, werden stets in ihrer Be¬
deutung/ in ihrem Bezüge zu der freien Natur, zu der Selbstentwicklung
desselben gezeigt und angewandt. Bedenkt man noch, wie, namentlich
in, den beiden letzten Bänden, die noch frische Erinnerung der Thaten
und Ereignisse es möglich machte, überall die individuellen Triebfedern
und die Berührungen der besonderen und allgemeineren Gesichtskreise
auszuweisen, und wie doch zugleich die letzte von Gervinus geschilderte
Epoche, welche, nach seiner Ansicht, bis gegen die Zeit' der Befreiungs¬
kriege reicht, sich bereits in dem nöthigen Abstände gegen uns befindet,
um die Masse der Erscheinungen mit ruhigem Urtheil ordnen, ihren
Grundbau zeichnen und ein Resultat daraus ziehen zu können, so wird
man, wenn man das Geleistete überschaut, anerkennen müssen, daß hier
ein Werk geliefert ist, welches in vollem Sinne den Namen einer ur¬
sprünglichen Geschichte in Anspruch nehmen darf; nicht einer Geschichte
aus den Büchern darüber, sondern aus den Sachen, aus der ersten
Hand; einer Geschichte, welche aus und zu dem Volke spricht, welche selbst in
die Zeit einschreitet, und dem Gelebtcn eine neue Kraft einhaucht. Was
anders soll auch der Geschichtschreiber bezwecken, als die Vergangenheit der
Dinge zu überwinden, und die großen Massen des Geschehenen, die,
zerstückt und verstreut, den Fortgang der Cultur belasten, uns in einen
Besitz zu verwandeln, den wir beherrschen, mit dem wir in unserer eige¬
nen Welt wirken können? Nur so wirv der Historiker uns bereichern,'nur so wird er zu dem, was der Augenblick gebiert, den Gehalt und
unvergänglichen Geist, der früher erschienen ist, wieder gewinnen und
erhalten. In diesem Sinne strebt freilich die ganze Geschichte jetzt wie¬
der ans Licht zu tauchen; doch müssen wir vor Allem das willkommen
heißen, was uns zum Bewußtsein unserer nächsten Vorzeit, und damit
zur Einsicht in die heutige Welt verhilft. In Gervinus Schrift tritt
uns überall der praktische und nationale Geist entgegen, der Geist des
Handelns und der Gegenwart; es bildet dies die ernste Grundlage sei¬
ner Arbeit, und giebt seiner Darstellung einen Schwung, eine Gedie¬
genheit und Beredsamkeit, wie ein solcher Inhalt und ein solches Ziel
sie verlangten. Und, sollte man auch über die Anwendung, die er von
seinen Principien macht, selbst in Hauptsachen anderer Ansicht sein, so
wird man doch jener Grundtendenz ihr Recht nicht versagen können.

Durchgehends stellt sich Gervinus auf den Standpunkt der allge¬
meinen Geschichte. Die neuere Dichtung bildet sich bei ihm als ein Mo¬
ment der Culturentwickelung heraus, und'es kommt ihm dabei zu Stat-


mit die Umwelt gegen das Individuum stößt, werden stets in ihrer Be¬
deutung/ in ihrem Bezüge zu der freien Natur, zu der Selbstentwicklung
desselben gezeigt und angewandt. Bedenkt man noch, wie, namentlich
in, den beiden letzten Bänden, die noch frische Erinnerung der Thaten
und Ereignisse es möglich machte, überall die individuellen Triebfedern
und die Berührungen der besonderen und allgemeineren Gesichtskreise
auszuweisen, und wie doch zugleich die letzte von Gervinus geschilderte
Epoche, welche, nach seiner Ansicht, bis gegen die Zeit' der Befreiungs¬
kriege reicht, sich bereits in dem nöthigen Abstände gegen uns befindet,
um die Masse der Erscheinungen mit ruhigem Urtheil ordnen, ihren
Grundbau zeichnen und ein Resultat daraus ziehen zu können, so wird
man, wenn man das Geleistete überschaut, anerkennen müssen, daß hier
ein Werk geliefert ist, welches in vollem Sinne den Namen einer ur¬
sprünglichen Geschichte in Anspruch nehmen darf; nicht einer Geschichte
aus den Büchern darüber, sondern aus den Sachen, aus der ersten
Hand; einer Geschichte, welche aus und zu dem Volke spricht, welche selbst in
die Zeit einschreitet, und dem Gelebtcn eine neue Kraft einhaucht. Was
anders soll auch der Geschichtschreiber bezwecken, als die Vergangenheit der
Dinge zu überwinden, und die großen Massen des Geschehenen, die,
zerstückt und verstreut, den Fortgang der Cultur belasten, uns in einen
Besitz zu verwandeln, den wir beherrschen, mit dem wir in unserer eige¬
nen Welt wirken können? Nur so wirv der Historiker uns bereichern,'nur so wird er zu dem, was der Augenblick gebiert, den Gehalt und
unvergänglichen Geist, der früher erschienen ist, wieder gewinnen und
erhalten. In diesem Sinne strebt freilich die ganze Geschichte jetzt wie¬
der ans Licht zu tauchen; doch müssen wir vor Allem das willkommen
heißen, was uns zum Bewußtsein unserer nächsten Vorzeit, und damit
zur Einsicht in die heutige Welt verhilft. In Gervinus Schrift tritt
uns überall der praktische und nationale Geist entgegen, der Geist des
Handelns und der Gegenwart; es bildet dies die ernste Grundlage sei¬
ner Arbeit, und giebt seiner Darstellung einen Schwung, eine Gedie¬
genheit und Beredsamkeit, wie ein solcher Inhalt und ein solches Ziel
sie verlangten. Und, sollte man auch über die Anwendung, die er von
seinen Principien macht, selbst in Hauptsachen anderer Ansicht sein, so
wird man doch jener Grundtendenz ihr Recht nicht versagen können.

Durchgehends stellt sich Gervinus auf den Standpunkt der allge¬
meinen Geschichte. Die neuere Dichtung bildet sich bei ihm als ein Mo¬
ment der Culturentwickelung heraus, und'es kommt ihm dabei zu Stat-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0090" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/267305"/>
            <p xml:id="ID_622" prev="#ID_621"> mit die Umwelt gegen das Individuum stößt, werden stets in ihrer Be¬<lb/>
deutung/ in ihrem Bezüge zu der freien Natur, zu der Selbstentwicklung<lb/>
desselben gezeigt und angewandt. Bedenkt man noch, wie, namentlich<lb/>
in, den beiden letzten Bänden, die noch frische Erinnerung der Thaten<lb/>
und Ereignisse es möglich machte, überall die individuellen Triebfedern<lb/>
und die Berührungen der besonderen und allgemeineren Gesichtskreise<lb/>
auszuweisen, und wie doch zugleich die letzte von Gervinus geschilderte<lb/>
Epoche, welche, nach seiner Ansicht, bis gegen die Zeit' der Befreiungs¬<lb/>
kriege reicht, sich bereits in dem nöthigen Abstände gegen uns befindet,<lb/>
um die Masse der Erscheinungen mit ruhigem Urtheil ordnen, ihren<lb/>
Grundbau zeichnen und ein Resultat daraus ziehen zu können, so wird<lb/>
man, wenn man das Geleistete überschaut, anerkennen müssen, daß hier<lb/>
ein Werk geliefert ist, welches in vollem Sinne den Namen einer ur¬<lb/>
sprünglichen Geschichte in Anspruch nehmen darf; nicht einer Geschichte<lb/>
aus den Büchern darüber, sondern aus den Sachen, aus der ersten<lb/>
Hand; einer Geschichte, welche aus und zu dem Volke spricht, welche selbst in<lb/>
die Zeit einschreitet, und dem Gelebtcn eine neue Kraft einhaucht. Was<lb/>
anders soll auch der Geschichtschreiber bezwecken, als die Vergangenheit der<lb/>
Dinge zu überwinden, und die großen Massen des Geschehenen, die,<lb/>
zerstückt und verstreut, den Fortgang der Cultur belasten, uns in einen<lb/>
Besitz zu verwandeln, den wir beherrschen, mit dem wir in unserer eige¬<lb/>
nen Welt wirken können? Nur so wirv der Historiker uns bereichern,'nur so wird er zu dem, was der Augenblick gebiert, den Gehalt und<lb/>
unvergänglichen Geist, der früher erschienen ist, wieder gewinnen und<lb/>
erhalten. In diesem Sinne strebt freilich die ganze Geschichte jetzt wie¬<lb/>
der ans Licht zu tauchen; doch müssen wir vor Allem das willkommen<lb/>
heißen, was uns zum Bewußtsein unserer nächsten Vorzeit, und damit<lb/>
zur Einsicht in die heutige Welt verhilft. In Gervinus Schrift tritt<lb/>
uns überall der praktische und nationale Geist entgegen, der Geist des<lb/>
Handelns und der Gegenwart; es bildet dies die ernste Grundlage sei¬<lb/>
ner Arbeit, und giebt seiner Darstellung einen Schwung, eine Gedie¬<lb/>
genheit und Beredsamkeit, wie ein solcher Inhalt und ein solches Ziel<lb/>
sie verlangten. Und, sollte man auch über die Anwendung, die er von<lb/>
seinen Principien macht, selbst in Hauptsachen anderer Ansicht sein, so<lb/>
wird man doch jener Grundtendenz ihr Recht nicht versagen können.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_623" next="#ID_624"> Durchgehends stellt sich Gervinus auf den Standpunkt der allge¬<lb/>
meinen Geschichte. Die neuere Dichtung bildet sich bei ihm als ein Mo¬<lb/>
ment der Culturentwickelung heraus, und'es kommt ihm dabei zu Stat-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0090] mit die Umwelt gegen das Individuum stößt, werden stets in ihrer Be¬ deutung/ in ihrem Bezüge zu der freien Natur, zu der Selbstentwicklung desselben gezeigt und angewandt. Bedenkt man noch, wie, namentlich in, den beiden letzten Bänden, die noch frische Erinnerung der Thaten und Ereignisse es möglich machte, überall die individuellen Triebfedern und die Berührungen der besonderen und allgemeineren Gesichtskreise auszuweisen, und wie doch zugleich die letzte von Gervinus geschilderte Epoche, welche, nach seiner Ansicht, bis gegen die Zeit' der Befreiungs¬ kriege reicht, sich bereits in dem nöthigen Abstände gegen uns befindet, um die Masse der Erscheinungen mit ruhigem Urtheil ordnen, ihren Grundbau zeichnen und ein Resultat daraus ziehen zu können, so wird man, wenn man das Geleistete überschaut, anerkennen müssen, daß hier ein Werk geliefert ist, welches in vollem Sinne den Namen einer ur¬ sprünglichen Geschichte in Anspruch nehmen darf; nicht einer Geschichte aus den Büchern darüber, sondern aus den Sachen, aus der ersten Hand; einer Geschichte, welche aus und zu dem Volke spricht, welche selbst in die Zeit einschreitet, und dem Gelebtcn eine neue Kraft einhaucht. Was anders soll auch der Geschichtschreiber bezwecken, als die Vergangenheit der Dinge zu überwinden, und die großen Massen des Geschehenen, die, zerstückt und verstreut, den Fortgang der Cultur belasten, uns in einen Besitz zu verwandeln, den wir beherrschen, mit dem wir in unserer eige¬ nen Welt wirken können? Nur so wirv der Historiker uns bereichern,'nur so wird er zu dem, was der Augenblick gebiert, den Gehalt und unvergänglichen Geist, der früher erschienen ist, wieder gewinnen und erhalten. In diesem Sinne strebt freilich die ganze Geschichte jetzt wie¬ der ans Licht zu tauchen; doch müssen wir vor Allem das willkommen heißen, was uns zum Bewußtsein unserer nächsten Vorzeit, und damit zur Einsicht in die heutige Welt verhilft. In Gervinus Schrift tritt uns überall der praktische und nationale Geist entgegen, der Geist des Handelns und der Gegenwart; es bildet dies die ernste Grundlage sei¬ ner Arbeit, und giebt seiner Darstellung einen Schwung, eine Gedie¬ genheit und Beredsamkeit, wie ein solcher Inhalt und ein solches Ziel sie verlangten. Und, sollte man auch über die Anwendung, die er von seinen Principien macht, selbst in Hauptsachen anderer Ansicht sein, so wird man doch jener Grundtendenz ihr Recht nicht versagen können. Durchgehends stellt sich Gervinus auf den Standpunkt der allge¬ meinen Geschichte. Die neuere Dichtung bildet sich bei ihm als ein Mo¬ ment der Culturentwickelung heraus, und'es kommt ihm dabei zu Stat-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/90
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/90>, abgerufen am 23.07.2024.