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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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tes "System im Körper der Geschichte ausmachen. Die Talente,.deren
Bildung und Thun er uns vorführt, sind eben so wenig mechanische,
als isolirte Kräfte, eben so wenig bloße Beamte und Delegirte einer
Macht, die nicht in ihnen selbst ruhet, als gesetzlose, zufällige, in sich
verkommene Gewalten. Er giebt uns das Leben freier Männer, für
das Ganze berufener und dadurch auch in sich selbst beruhender Naturen,
Glieder eines poetischen Staates, in welchen erst ein jeder seinen
wahren Charakter gewinnt und entfaltet. Doch zieht sich der Faden,
welcher die Folge der Erscheinungen bindet, nicht als eine abstrakte Re¬
gel durch das Werk; noch löst er sich, als ein letztes schematiches Re¬
sultat, aus denselben los. Gervinus ist zu sehr Meister seines Stoffes
bis ins Einzelnste, um je den durchdringenden Blick vom Ganzen aus
zu verlieren. Mögen auch manche Principien des Haltes entbehren;
die Form des, Werkes beurkundet die größte Consemimz; wir begeg¬
nen nirgends dem Willkührlichem, und doch spricht sich alles in Frische und
Fülle aus. Neben dieser Kunst, welche,--abgesehn von dein Verdienste
der gelehrten Forschung, der Sichtung, der Auswahl und gedrängten
Bemächtigung ernes, unermeßlichen Materials, -- dem Werke seine blei¬
bende Geltung verschafft, wird man besonders noch eine glückliche Cha-
rakterisirung gewahr, welche, immer den Grundriß im Auge, jede Linie,
jeden Licht- und Schattenzug zu ihrem Bilde verwendet. Dazu befähigte
den Verfasser die angedeutete Methode, die Einzelerscheinung an ihre or¬
ganische Stelle zu heben, und sie so in doppeltem Lichte anzuschauen,
in dem ihr eignen, und in dem Tage der Oeffentlichkeit, der Zeit und
der Welt, in welche sie gehört. Vielleicht geht diese Schärfe der Cha¬
rakterzeichnung bei denjenigen Individualitäten weiter, welche der Mi߬
billigung des Verfassers verfallen sind; hier mußte eine genauere Kritik
sich gegen die Autorität mancher verbreiteten Ansicht rechtfertigen. Doch
Weist sie sich auch bei denjenigen Dichtern aus, über die, als allgemein
beliebte, oft geschilderte und beurtheilte, der Geschichtschreiber in Gefahr
geriet!), nur das Bekannte zu wiederholen. Viele Aufschlüsse über die
Natur und Richtung der hervorstechendsten Gestalten des deutschen Par¬
nasses verdanken wir den geistvollen Parallelen, welche der Verfasser bald
in Umrissen andeutet, bald bis in die feineren Linien verfolgt. In Ger¬
vinus Betrachtungsweise ist Alles bedeutend, alles thätig; das innere Ver¬
mögen des Menschen, und das, was ihm von Außen kommt, bedingen
und erklären sich einander; die gemeinhin als Schicksal aufgefaßten Be-
gegniss? und Lagen eines-Menschen, die Hindernisse und Antriebe, wo-


tes „System im Körper der Geschichte ausmachen. Die Talente,.deren
Bildung und Thun er uns vorführt, sind eben so wenig mechanische,
als isolirte Kräfte, eben so wenig bloße Beamte und Delegirte einer
Macht, die nicht in ihnen selbst ruhet, als gesetzlose, zufällige, in sich
verkommene Gewalten. Er giebt uns das Leben freier Männer, für
das Ganze berufener und dadurch auch in sich selbst beruhender Naturen,
Glieder eines poetischen Staates, in welchen erst ein jeder seinen
wahren Charakter gewinnt und entfaltet. Doch zieht sich der Faden,
welcher die Folge der Erscheinungen bindet, nicht als eine abstrakte Re¬
gel durch das Werk; noch löst er sich, als ein letztes schematiches Re¬
sultat, aus denselben los. Gervinus ist zu sehr Meister seines Stoffes
bis ins Einzelnste, um je den durchdringenden Blick vom Ganzen aus
zu verlieren. Mögen auch manche Principien des Haltes entbehren;
die Form des, Werkes beurkundet die größte Consemimz; wir begeg¬
nen nirgends dem Willkührlichem, und doch spricht sich alles in Frische und
Fülle aus. Neben dieser Kunst, welche,—abgesehn von dein Verdienste
der gelehrten Forschung, der Sichtung, der Auswahl und gedrängten
Bemächtigung ernes, unermeßlichen Materials, — dem Werke seine blei¬
bende Geltung verschafft, wird man besonders noch eine glückliche Cha-
rakterisirung gewahr, welche, immer den Grundriß im Auge, jede Linie,
jeden Licht- und Schattenzug zu ihrem Bilde verwendet. Dazu befähigte
den Verfasser die angedeutete Methode, die Einzelerscheinung an ihre or¬
ganische Stelle zu heben, und sie so in doppeltem Lichte anzuschauen,
in dem ihr eignen, und in dem Tage der Oeffentlichkeit, der Zeit und
der Welt, in welche sie gehört. Vielleicht geht diese Schärfe der Cha¬
rakterzeichnung bei denjenigen Individualitäten weiter, welche der Mi߬
billigung des Verfassers verfallen sind; hier mußte eine genauere Kritik
sich gegen die Autorität mancher verbreiteten Ansicht rechtfertigen. Doch
Weist sie sich auch bei denjenigen Dichtern aus, über die, als allgemein
beliebte, oft geschilderte und beurtheilte, der Geschichtschreiber in Gefahr
geriet!), nur das Bekannte zu wiederholen. Viele Aufschlüsse über die
Natur und Richtung der hervorstechendsten Gestalten des deutschen Par¬
nasses verdanken wir den geistvollen Parallelen, welche der Verfasser bald
in Umrissen andeutet, bald bis in die feineren Linien verfolgt. In Ger¬
vinus Betrachtungsweise ist Alles bedeutend, alles thätig; das innere Ver¬
mögen des Menschen, und das, was ihm von Außen kommt, bedingen
und erklären sich einander; die gemeinhin als Schicksal aufgefaßten Be-
gegniss? und Lagen eines-Menschen, die Hindernisse und Antriebe, wo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/89>, abgerufen am 23.07.2024.