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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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Colmar scheint von jeher das gelobte Land deS Pietismus gewesen
zu sein. Görres, der Herr von Görres, führt in seiner Mystik das
Nonnenkloster Unterlinden in Colmar als eine "rechte Schule prak¬
tischer Mystik" an, und erzählt eine Reihe von Scher-, Geister-, Begei-
sternngsgcschichtchen, die alle davon Zeugniß geben, daß die Nonnen
dieses Klosters im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert ganz ab¬
sonderlich von Gott bevorzugt und, wie sich für so fromme Gei¬
ster gebührt, Privileg irr waren und sich deswegen selbst etwas weniges
anbeteten, wenigstens mit dem Herrn Jesus Christus"leiblich trauen lie¬
ßen, oder mit seinen Engeln freundschaftlichen Umgang pflogen.-- "Auch
Adelheid von Lipolzheim wird oft im Gebet so mit Süße übergössen,
daß es ihr vorkömmt, alle ihre Glieder seien von Gott erfüllt, und
nicht selten ist solche Gluth in ihrem Herzen, daß sie äußerlich durch
vermehrte Transpiration sichtbar wird. Sie stellt sich bisweilen in den
eisbedeckten Strom, bis ihr Leib erstarrt, und steht dann mit nackten
Füßen, nur mit einem Kleide bedeckt, in der Thüre-des Chors in tief¬
ster Betrachtung bis zur Morgenröthe; und ihr Körper ist unterdessen
von der innern Gluth mit Schweißtropfen all überronnen." Solcher
Geschichtche'n erzählt Görres zwei Dutzend und etliche mehr, und eS
wäre ein Leichtes, sie aus den Chroniken aller Zeiten und Voller mit
nicht weniger unterhaltenden zu vermehren.

Dse sehr frommen und allerftömmsten protestantischen Pietisten in
Colmar sind übrigens meist sehr reiche Leute, die in ihrem Pietismus
von der Gnade Gottes und den Procenten, die ihnen das theuer aus¬
geliehene Geld einbringt, leben. Die Altcvlmarer Protestantenfamilien
sind sehr achtbare Zahler, aber spinnen sich noch mehr ein, als die Alt-
Protestanten in andern Städten des Elsasses/ Die katholische Bürger¬
schaft bildet auch hier den untern Theil des Volkes und den Beamten¬
stand. Ein gesellschaftliches Leben giebt es fast gar nicht. Nur der
Präfect und ein Paar andere Honoratioren der Stadt empfangen von
Zeit zu Zeit etliche Bekannte, die aber meist keine eigentlichen Colmarer
sind. Die Colmarer jungen Männer der höheren Gesellschaft, Advokaten,
Angestellte, Kaufleute ziehen in der Regel vor, beim Glase Wein die
Zeit, die nicht der Arbeit gehört, zu tödten. Mein Cicerone, der übri¬
gens nicht die einzige Quelle war, aus der ich neben jeuer mystischen
schöpfte, behauptete gar, die Mehrzahl der jungen Leute hielte es für ei¬
nen reinen Gewinn, das Geld, das ein Leibrock kosten könne, zu ver¬
trinken.


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Colmar scheint von jeher das gelobte Land deS Pietismus gewesen
zu sein. Görres, der Herr von Görres, führt in seiner Mystik das
Nonnenkloster Unterlinden in Colmar als eine „rechte Schule prak¬
tischer Mystik" an, und erzählt eine Reihe von Scher-, Geister-, Begei-
sternngsgcschichtchen, die alle davon Zeugniß geben, daß die Nonnen
dieses Klosters im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert ganz ab¬
sonderlich von Gott bevorzugt und, wie sich für so fromme Gei¬
ster gebührt, Privileg irr waren und sich deswegen selbst etwas weniges
anbeteten, wenigstens mit dem Herrn Jesus Christus"leiblich trauen lie¬
ßen, oder mit seinen Engeln freundschaftlichen Umgang pflogen.— „Auch
Adelheid von Lipolzheim wird oft im Gebet so mit Süße übergössen,
daß es ihr vorkömmt, alle ihre Glieder seien von Gott erfüllt, und
nicht selten ist solche Gluth in ihrem Herzen, daß sie äußerlich durch
vermehrte Transpiration sichtbar wird. Sie stellt sich bisweilen in den
eisbedeckten Strom, bis ihr Leib erstarrt, und steht dann mit nackten
Füßen, nur mit einem Kleide bedeckt, in der Thüre-des Chors in tief¬
ster Betrachtung bis zur Morgenröthe; und ihr Körper ist unterdessen
von der innern Gluth mit Schweißtropfen all überronnen." Solcher
Geschichtche'n erzählt Görres zwei Dutzend und etliche mehr, und eS
wäre ein Leichtes, sie aus den Chroniken aller Zeiten und Voller mit
nicht weniger unterhaltenden zu vermehren.

Dse sehr frommen und allerftömmsten protestantischen Pietisten in
Colmar sind übrigens meist sehr reiche Leute, die in ihrem Pietismus
von der Gnade Gottes und den Procenten, die ihnen das theuer aus¬
geliehene Geld einbringt, leben. Die Altcvlmarer Protestantenfamilien
sind sehr achtbare Zahler, aber spinnen sich noch mehr ein, als die Alt-
Protestanten in andern Städten des Elsasses/ Die katholische Bürger¬
schaft bildet auch hier den untern Theil des Volkes und den Beamten¬
stand. Ein gesellschaftliches Leben giebt es fast gar nicht. Nur der
Präfect und ein Paar andere Honoratioren der Stadt empfangen von
Zeit zu Zeit etliche Bekannte, die aber meist keine eigentlichen Colmarer
sind. Die Colmarer jungen Männer der höheren Gesellschaft, Advokaten,
Angestellte, Kaufleute ziehen in der Regel vor, beim Glase Wein die
Zeit, die nicht der Arbeit gehört, zu tödten. Mein Cicerone, der übri¬
gens nicht die einzige Quelle war, aus der ich neben jeuer mystischen
schöpfte, behauptete gar, die Mehrzahl der jungen Leute hielte es für ei¬
nen reinen Gewinn, das Geld, das ein Leibrock kosten könne, zu ver¬
trinken.


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[0585] Colmar scheint von jeher das gelobte Land deS Pietismus gewesen zu sein. Görres, der Herr von Görres, führt in seiner Mystik das Nonnenkloster Unterlinden in Colmar als eine „rechte Schule prak¬ tischer Mystik" an, und erzählt eine Reihe von Scher-, Geister-, Begei- sternngsgcschichtchen, die alle davon Zeugniß geben, daß die Nonnen dieses Klosters im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert ganz ab¬ sonderlich von Gott bevorzugt und, wie sich für so fromme Gei¬ ster gebührt, Privileg irr waren und sich deswegen selbst etwas weniges anbeteten, wenigstens mit dem Herrn Jesus Christus"leiblich trauen lie¬ ßen, oder mit seinen Engeln freundschaftlichen Umgang pflogen.— „Auch Adelheid von Lipolzheim wird oft im Gebet so mit Süße übergössen, daß es ihr vorkömmt, alle ihre Glieder seien von Gott erfüllt, und nicht selten ist solche Gluth in ihrem Herzen, daß sie äußerlich durch vermehrte Transpiration sichtbar wird. Sie stellt sich bisweilen in den eisbedeckten Strom, bis ihr Leib erstarrt, und steht dann mit nackten Füßen, nur mit einem Kleide bedeckt, in der Thüre-des Chors in tief¬ ster Betrachtung bis zur Morgenröthe; und ihr Körper ist unterdessen von der innern Gluth mit Schweißtropfen all überronnen." Solcher Geschichtche'n erzählt Görres zwei Dutzend und etliche mehr, und eS wäre ein Leichtes, sie aus den Chroniken aller Zeiten und Voller mit nicht weniger unterhaltenden zu vermehren. Dse sehr frommen und allerftömmsten protestantischen Pietisten in Colmar sind übrigens meist sehr reiche Leute, die in ihrem Pietismus von der Gnade Gottes und den Procenten, die ihnen das theuer aus¬ geliehene Geld einbringt, leben. Die Altcvlmarer Protestantenfamilien sind sehr achtbare Zahler, aber spinnen sich noch mehr ein, als die Alt- Protestanten in andern Städten des Elsasses/ Die katholische Bürger¬ schaft bildet auch hier den untern Theil des Volkes und den Beamten¬ stand. Ein gesellschaftliches Leben giebt es fast gar nicht. Nur der Präfect und ein Paar andere Honoratioren der Stadt empfangen von Zeit zu Zeit etliche Bekannte, die aber meist keine eigentlichen Colmarer sind. Die Colmarer jungen Männer der höheren Gesellschaft, Advokaten, Angestellte, Kaufleute ziehen in der Regel vor, beim Glase Wein die Zeit, die nicht der Arbeit gehört, zu tödten. Mein Cicerone, der übri¬ gens nicht die einzige Quelle war, aus der ich neben jeuer mystischen schöpfte, behauptete gar, die Mehrzahl der jungen Leute hielte es für ei¬ nen reinen Gewinn, das Geld, das ein Leibrock kosten könne, zu ver¬ trinken. 77»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/585>, abgerufen am 02.07.2024.