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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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Sinn, der bei den größten/ weltbewegendsten Fragen den nächsten Vortheil im
Auge behält,' scheint dieser Stadt angeboren und schon vor der Offenbarung des
Dampfes da gewesen zu sein. Um so mehr Bedeutung erhalt Leipzig durch ihn,
jetzt, wo dieser Jndustrialismus die Deutschen in eben so utopische Träumereien
stürzt, wie einst die große französische Revolution, die Schellingische Naturphiloso¬
phie oder die Romantik. Sie glauben nicht, was man Alles vom Materialismus
erwartet: Absorbirung der kleineren Nationalitäten, den ewigen Frieden, den Un¬
tergang des Lateinischen'und Griechischen, endliche Losreißung von den Traditionen
des Mittelalters:c. Vieles oder wenigstens Manches davon wird der neue Mes¬
sias erfüllen. Aber um welchen Preis?! -- Jedenfalls konnten uns diese deutschen
Prophezeihungen über die Bestimmung des Materialismus überzeugen, daß Deutsch¬
land nie materiell im gemeinen Sinn des Wortes werden kann, da es selbst den
rohen, gigantischen Erdgeist so leicht zum Genius der Menschheit verklärt. Fra.nich
sind dies nur die Wiegenlieder des Materialismus, und wenn dem kleinen Riesen
die Glieder gewachsen sind, dürfte er seinen zärtlichen Hütern und Wärtern ein
anderes Lied singen. -- Für diesmal jedoch wollen wir uns dabei beruhigen.


-Phe!-'


2.
Briefe aus Brüssel.

D.is protestantische SchiSma, -- Napoleon, -- König Leopold, -- Die neue Gemeinde
, ' ' - > . - und Herr Boucher.

Ein merkwürdiger Streit hat sich 'hier in Brüssel zwischen den von dem Or¬
gane der römisch-katholischen Kirche, dem Journal de Vrurell>S, sogenannten "Neu¬
protestanten" und den /,Altprotcstantcn" erhoben. Was aber diesen Kampf noch
merkwürdiger macht, ist, daß derselbe in einem katholischen Blatte gekämpft wird,
rud die Protestanten an demselben einen warmen Vertheidiger finden. Die Protestanten
in Brüssel erhielten, nachdem sie eine geraume Zeit sich in einem Hause versam¬
melten, unter Napoleons Scepter vollkommene Religionsfreiheit, eine schön? Kirche
(ancienne "le.incllll tlo I-, e"ur) und einen vortrefflichen Prediger, der deutsch und
französisch predigte, und der, nachdem er eine Zeit lang den rationalistischen Grund¬
sätzen, die er auf der Universität eingesogen hatte, ergeben war, seine früher ge¬
hegten Meinungen öffentlich auf der Kanzel widerrief. Nach seinem Tode ward
der gelehrte, durch die Herausgabe der auch in Brüssel nachgedruckten Reformati-
onsgeschichte in Frankreich und England, wo sie ins Englische übersetzt wurde, be¬
rühmte. Prediger Merle dÄubignv aus Hamburg, wo er als französischer Prediger
stand, nach Brüssel berufen. Um so schmerzlicher wurde auch der Verlust gefühlt,
als er im Jahr IM dem Rufe zum Director der Theologischen Schule in seiner


Sinn, der bei den größten/ weltbewegendsten Fragen den nächsten Vortheil im
Auge behält,' scheint dieser Stadt angeboren und schon vor der Offenbarung des
Dampfes da gewesen zu sein. Um so mehr Bedeutung erhalt Leipzig durch ihn,
jetzt, wo dieser Jndustrialismus die Deutschen in eben so utopische Träumereien
stürzt, wie einst die große französische Revolution, die Schellingische Naturphiloso¬
phie oder die Romantik. Sie glauben nicht, was man Alles vom Materialismus
erwartet: Absorbirung der kleineren Nationalitäten, den ewigen Frieden, den Un¬
tergang des Lateinischen'und Griechischen, endliche Losreißung von den Traditionen
des Mittelalters:c. Vieles oder wenigstens Manches davon wird der neue Mes¬
sias erfüllen. Aber um welchen Preis?! — Jedenfalls konnten uns diese deutschen
Prophezeihungen über die Bestimmung des Materialismus überzeugen, daß Deutsch¬
land nie materiell im gemeinen Sinn des Wortes werden kann, da es selbst den
rohen, gigantischen Erdgeist so leicht zum Genius der Menschheit verklärt. Fra.nich
sind dies nur die Wiegenlieder des Materialismus, und wenn dem kleinen Riesen
die Glieder gewachsen sind, dürfte er seinen zärtlichen Hütern und Wärtern ein
anderes Lied singen. — Für diesmal jedoch wollen wir uns dabei beruhigen.


-Phe!-'


2.
Briefe aus Brüssel.

D.is protestantische SchiSma, — Napoleon, — König Leopold, — Die neue Gemeinde
, ' ' - > . - und Herr Boucher.

Ein merkwürdiger Streit hat sich 'hier in Brüssel zwischen den von dem Or¬
gane der römisch-katholischen Kirche, dem Journal de Vrurell>S, sogenannten «Neu¬
protestanten» und den /,Altprotcstantcn" erhoben. Was aber diesen Kampf noch
merkwürdiger macht, ist, daß derselbe in einem katholischen Blatte gekämpft wird,
rud die Protestanten an demselben einen warmen Vertheidiger finden. Die Protestanten
in Brüssel erhielten, nachdem sie eine geraume Zeit sich in einem Hause versam¬
melten, unter Napoleons Scepter vollkommene Religionsfreiheit, eine schön? Kirche
(ancienne «le.incllll tlo I-, e»ur) und einen vortrefflichen Prediger, der deutsch und
französisch predigte, und der, nachdem er eine Zeit lang den rationalistischen Grund¬
sätzen, die er auf der Universität eingesogen hatte, ergeben war, seine früher ge¬
hegten Meinungen öffentlich auf der Kanzel widerrief. Nach seinem Tode ward
der gelehrte, durch die Herausgabe der auch in Brüssel nachgedruckten Reformati-
onsgeschichte in Frankreich und England, wo sie ins Englische übersetzt wurde, be¬
rühmte. Prediger Merle dÄubignv aus Hamburg, wo er als französischer Prediger
stand, nach Brüssel berufen. Um so schmerzlicher wurde auch der Verlust gefühlt,
als er im Jahr IM dem Rufe zum Director der Theologischen Schule in seiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/452>, abgerufen am 22.12.2024.