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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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Iphigenie wurde den 19ten April 1774 zum ersten Male auf¬
geführt. Während dieser Feierlichkeit befanden sich drei Parteien einan¬
der gegenüber; die der alten französischen Oper, welche geschworn hatte,
keine andere Götter anzuerkennen, als Lulu und Namcau; die der ita¬
lienischen Musik, für welche die Compositionen von Jomelli, Sacchini
und Piccini die einzig mögliche Musik waren, und endlich die Partei
Gluck's,, welche die Behauptung feststellte, dieser Compomst habe die
für theatralische Darstellung geeignetste Musik aufgefunden, eine ratio¬
nelle Musik, die keinem Lande angehöre, deren Styl aber ihr genialer
Verfasser- dem besondern Idiom der französischen Sprache anzupassen
verstanden habe. Bei der ersten Aufführung wurden viele Stücke mit
Beifall, das Ganze aber ziemlich kalt aufgenommen, vielleicht wegen der
Schwäche des Ausgangs, und weil das Ballet, worauf die alten Opern-
bcsucher erstaunlich viel hielten, ungenügend war. Bei der zweiten Auf¬
führung wurde die Musik der Iphigenie besser begriffen, und der
Compomst ward mehre Male gerufen, ohne erscheinen zu wollen. Das
Gedicht, welches nichts anders war, als die.von Herrn de Rottet ar-
rangirte Racine'sche Tragödie wurde von den Literaten streng beur¬
theilt; aber es war für die Musik passend, und das ist die Hauptfache.

Nach dem glücklichen Erfolg der Iphigenie beschäftigte sich Gluck
damit, Alceste und Orpheus zu übersetzen, welche auch ganz das
Glück hatten, das ihr berühmter Compomst wünschen konnte. Die Pro¬
ben dieser beiden Opern waren die ersten, denen man ein zahlreiches
Publikum beiwohnen sah; man machte einander die Gunst streitig, zu¬
gelassen zu werden, als hätte es sich um das, interessanteste Schauspiel
gehandelt, und man klatschte Beifall, als wäre man in einer ordentli¬
chen Vorstellung. Gluck, der wie alle großen Künstler ungenirt war,
legte gewöhnlich einen Augenblick, ehe er die Proben begann, seine Per¬
rücke und einen Theil seiner Kleider ab, indem er sich nicht mehr Zwang
anthat, als wäre er allein in seinem Arbeits-Cabinet gewesen, und die
größten Herren beeiferten sich nachher, ihm die abgelegten Kleidungsstücke
wieder darzureichen. Da ihn Marie Antoinette unter ihren Schutz ge¬
nommen hatte, so hatte sich der ganze Hof zu seiner Partei geschlagen,
und ihm Beifall zu klatschen, war eine Pflicht der Etiquette geworden,
der man sich nicht entziehen durste.

Die zahlreichen Freunde der italienischen Musik hatten jedoch noch
genug Einfluß, um es dahin zu bringen, daß man Piccini kommen
ließ, und ihn mit der Composition einer Oper beauftragte. Dieser b>


Iphigenie wurde den 19ten April 1774 zum ersten Male auf¬
geführt. Während dieser Feierlichkeit befanden sich drei Parteien einan¬
der gegenüber; die der alten französischen Oper, welche geschworn hatte,
keine andere Götter anzuerkennen, als Lulu und Namcau; die der ita¬
lienischen Musik, für welche die Compositionen von Jomelli, Sacchini
und Piccini die einzig mögliche Musik waren, und endlich die Partei
Gluck's,, welche die Behauptung feststellte, dieser Compomst habe die
für theatralische Darstellung geeignetste Musik aufgefunden, eine ratio¬
nelle Musik, die keinem Lande angehöre, deren Styl aber ihr genialer
Verfasser- dem besondern Idiom der französischen Sprache anzupassen
verstanden habe. Bei der ersten Aufführung wurden viele Stücke mit
Beifall, das Ganze aber ziemlich kalt aufgenommen, vielleicht wegen der
Schwäche des Ausgangs, und weil das Ballet, worauf die alten Opern-
bcsucher erstaunlich viel hielten, ungenügend war. Bei der zweiten Auf¬
führung wurde die Musik der Iphigenie besser begriffen, und der
Compomst ward mehre Male gerufen, ohne erscheinen zu wollen. Das
Gedicht, welches nichts anders war, als die.von Herrn de Rottet ar-
rangirte Racine'sche Tragödie wurde von den Literaten streng beur¬
theilt; aber es war für die Musik passend, und das ist die Hauptfache.

Nach dem glücklichen Erfolg der Iphigenie beschäftigte sich Gluck
damit, Alceste und Orpheus zu übersetzen, welche auch ganz das
Glück hatten, das ihr berühmter Compomst wünschen konnte. Die Pro¬
ben dieser beiden Opern waren die ersten, denen man ein zahlreiches
Publikum beiwohnen sah; man machte einander die Gunst streitig, zu¬
gelassen zu werden, als hätte es sich um das, interessanteste Schauspiel
gehandelt, und man klatschte Beifall, als wäre man in einer ordentli¬
chen Vorstellung. Gluck, der wie alle großen Künstler ungenirt war,
legte gewöhnlich einen Augenblick, ehe er die Proben begann, seine Per¬
rücke und einen Theil seiner Kleider ab, indem er sich nicht mehr Zwang
anthat, als wäre er allein in seinem Arbeits-Cabinet gewesen, und die
größten Herren beeiferten sich nachher, ihm die abgelegten Kleidungsstücke
wieder darzureichen. Da ihn Marie Antoinette unter ihren Schutz ge¬
nommen hatte, so hatte sich der ganze Hof zu seiner Partei geschlagen,
und ihm Beifall zu klatschen, war eine Pflicht der Etiquette geworden,
der man sich nicht entziehen durste.

Die zahlreichen Freunde der italienischen Musik hatten jedoch noch
genug Einfluß, um es dahin zu bringen, daß man Piccini kommen
ließ, und ihn mit der Composition einer Oper beauftragte. Dieser b>


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[0271] Iphigenie wurde den 19ten April 1774 zum ersten Male auf¬ geführt. Während dieser Feierlichkeit befanden sich drei Parteien einan¬ der gegenüber; die der alten französischen Oper, welche geschworn hatte, keine andere Götter anzuerkennen, als Lulu und Namcau; die der ita¬ lienischen Musik, für welche die Compositionen von Jomelli, Sacchini und Piccini die einzig mögliche Musik waren, und endlich die Partei Gluck's,, welche die Behauptung feststellte, dieser Compomst habe die für theatralische Darstellung geeignetste Musik aufgefunden, eine ratio¬ nelle Musik, die keinem Lande angehöre, deren Styl aber ihr genialer Verfasser- dem besondern Idiom der französischen Sprache anzupassen verstanden habe. Bei der ersten Aufführung wurden viele Stücke mit Beifall, das Ganze aber ziemlich kalt aufgenommen, vielleicht wegen der Schwäche des Ausgangs, und weil das Ballet, worauf die alten Opern- bcsucher erstaunlich viel hielten, ungenügend war. Bei der zweiten Auf¬ führung wurde die Musik der Iphigenie besser begriffen, und der Compomst ward mehre Male gerufen, ohne erscheinen zu wollen. Das Gedicht, welches nichts anders war, als die.von Herrn de Rottet ar- rangirte Racine'sche Tragödie wurde von den Literaten streng beur¬ theilt; aber es war für die Musik passend, und das ist die Hauptfache. Nach dem glücklichen Erfolg der Iphigenie beschäftigte sich Gluck damit, Alceste und Orpheus zu übersetzen, welche auch ganz das Glück hatten, das ihr berühmter Compomst wünschen konnte. Die Pro¬ ben dieser beiden Opern waren die ersten, denen man ein zahlreiches Publikum beiwohnen sah; man machte einander die Gunst streitig, zu¬ gelassen zu werden, als hätte es sich um das, interessanteste Schauspiel gehandelt, und man klatschte Beifall, als wäre man in einer ordentli¬ chen Vorstellung. Gluck, der wie alle großen Künstler ungenirt war, legte gewöhnlich einen Augenblick, ehe er die Proben begann, seine Per¬ rücke und einen Theil seiner Kleider ab, indem er sich nicht mehr Zwang anthat, als wäre er allein in seinem Arbeits-Cabinet gewesen, und die größten Herren beeiferten sich nachher, ihm die abgelegten Kleidungsstücke wieder darzureichen. Da ihn Marie Antoinette unter ihren Schutz ge¬ nommen hatte, so hatte sich der ganze Hof zu seiner Partei geschlagen, und ihm Beifall zu klatschen, war eine Pflicht der Etiquette geworden, der man sich nicht entziehen durste. Die zahlreichen Freunde der italienischen Musik hatten jedoch noch genug Einfluß, um es dahin zu bringen, daß man Piccini kommen ließ, und ihn mit der Composition einer Oper beauftragte. Dieser b>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/271>, abgerufen am 23.07.2024.