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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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deutendste und gewichtigste. Der Verfasser geht sehr richtig von dem
Gedanken aus, daß die Gesellschaft, so wie sie der Catholicismus or-
ganisirt hat, nicht mehr besteht; daß sie ihre Zeit durchgelebt, und daß
daher der Versuch, sie auf den Abgrund, in dem ihre so festen Grund¬
pfeiler versunken sind, neu aufzubauen eine Thorheit sein würde. Er
giebt darauf eine eben so kräftige als wahre Schilderung von der schreck¬
lichen Auflösung aller Moralprincipien, deren Schauspiel darzubieten
unsrem Jahrhundert vorbehalten war, und daraus zieht, er den Schluß,
baß die Stunde geschlagen hat, wo die Menschheit ihr Leben nach den
neuen Bedingungen gestalten muß, die so viele Unruhen und so merk¬
würdige Ereignisse nothwendig herbeigeführt haben. Bis dahin ist die¬
ser Aufsatz durchaus gerecht, vortrefflich gedacht und erhaben geschrie¬
ben. Aber nun fragt es sich, welches ist das Band, und gewisserma¬
ßen der Charakter einer Gesellschaft? Es ist die Religion! Larven
verkündet laut, daß ohne Religion keine Gesellschaft möglich ist. Die¬
ser ganze an die Philosophen erlassene Aufruf besitzt die ernste Schön¬
heit, die ein bewährtes Urtheil über diese großen weltbewegenden Fra¬
gen verbreitet. Nun spricht Lerour von den Bedürfnissen der Gesell¬
schaft; er sieht die Zukunft durch die Begleichung mit der Vergangen¬
heitvoraus. Aber um zu finden, muß man erst über das, was man sucht,
einverstanden sein, und man kann es nicht oft genug wiederholen, daß
eine Frage halb gelöst ist, wenn sie richtig gestellt ist. Es giebt keine
Gesellschaft ohne Glaubenslehren; die Religion ist nichts weiter als
diese Glaubenslehren der Menschen''in ihrer Anwendung auf die Be¬
dürfnisse des Zusammenlebens. So wird die Religion, so wird die
Gesellschaft beschaffen sein. Aber was für eine Religion wird es sein?
Hier verläßt Herr Lerour die Philosophen, um mit den Staatsmännern
zu discutiren. In dieser ersten Arbeit ist der socialistische Schriftsteller
auf dem Felde der Analysis geblieben.. In dem Theil, dessen Prüfung
jetzt folgen soll, ist er gezwungen zur Polemik herabzusteigen. Denn
er muß fremde Ideen bekämpfen, ehe er die seinigen annehmbar macht.
Die Staatsmänner siiid aber nicht etwa, wie man leicht meinen möchte,
die Männer der Regierung, welche die Gesellschaft so genommen, wie
sie sie vorgefunden. Nein! Nicht den Herrschern des Augenblicks predigt
er, nicht ihnen will er seine Ueberzeugung beibringen; er wendet sich
an.die, welche er für die Herren der kommenden Zeit hält. Die Sprache
seiner Theorie richtet er an eine andere Theorie, die noch in mühsamen
und bis jetzt unfruchtbaren Kindesnöthen ist, und es auch bleiben wird!


deutendste und gewichtigste. Der Verfasser geht sehr richtig von dem
Gedanken aus, daß die Gesellschaft, so wie sie der Catholicismus or-
ganisirt hat, nicht mehr besteht; daß sie ihre Zeit durchgelebt, und daß
daher der Versuch, sie auf den Abgrund, in dem ihre so festen Grund¬
pfeiler versunken sind, neu aufzubauen eine Thorheit sein würde. Er
giebt darauf eine eben so kräftige als wahre Schilderung von der schreck¬
lichen Auflösung aller Moralprincipien, deren Schauspiel darzubieten
unsrem Jahrhundert vorbehalten war, und daraus zieht, er den Schluß,
baß die Stunde geschlagen hat, wo die Menschheit ihr Leben nach den
neuen Bedingungen gestalten muß, die so viele Unruhen und so merk¬
würdige Ereignisse nothwendig herbeigeführt haben. Bis dahin ist die¬
ser Aufsatz durchaus gerecht, vortrefflich gedacht und erhaben geschrie¬
ben. Aber nun fragt es sich, welches ist das Band, und gewisserma¬
ßen der Charakter einer Gesellschaft? Es ist die Religion! Larven
verkündet laut, daß ohne Religion keine Gesellschaft möglich ist. Die¬
ser ganze an die Philosophen erlassene Aufruf besitzt die ernste Schön¬
heit, die ein bewährtes Urtheil über diese großen weltbewegenden Fra¬
gen verbreitet. Nun spricht Lerour von den Bedürfnissen der Gesell¬
schaft; er sieht die Zukunft durch die Begleichung mit der Vergangen¬
heitvoraus. Aber um zu finden, muß man erst über das, was man sucht,
einverstanden sein, und man kann es nicht oft genug wiederholen, daß
eine Frage halb gelöst ist, wenn sie richtig gestellt ist. Es giebt keine
Gesellschaft ohne Glaubenslehren; die Religion ist nichts weiter als
diese Glaubenslehren der Menschen''in ihrer Anwendung auf die Be¬
dürfnisse des Zusammenlebens. So wird die Religion, so wird die
Gesellschaft beschaffen sein. Aber was für eine Religion wird es sein?
Hier verläßt Herr Lerour die Philosophen, um mit den Staatsmännern
zu discutiren. In dieser ersten Arbeit ist der socialistische Schriftsteller
auf dem Felde der Analysis geblieben.. In dem Theil, dessen Prüfung
jetzt folgen soll, ist er gezwungen zur Polemik herabzusteigen. Denn
er muß fremde Ideen bekämpfen, ehe er die seinigen annehmbar macht.
Die Staatsmänner siiid aber nicht etwa, wie man leicht meinen möchte,
die Männer der Regierung, welche die Gesellschaft so genommen, wie
sie sie vorgefunden. Nein! Nicht den Herrschern des Augenblicks predigt
er, nicht ihnen will er seine Ueberzeugung beibringen; er wendet sich
an.die, welche er für die Herren der kommenden Zeit hält. Die Sprache
seiner Theorie richtet er an eine andere Theorie, die noch in mühsamen
und bis jetzt unfruchtbaren Kindesnöthen ist, und es auch bleiben wird!


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[0240] deutendste und gewichtigste. Der Verfasser geht sehr richtig von dem Gedanken aus, daß die Gesellschaft, so wie sie der Catholicismus or- ganisirt hat, nicht mehr besteht; daß sie ihre Zeit durchgelebt, und daß daher der Versuch, sie auf den Abgrund, in dem ihre so festen Grund¬ pfeiler versunken sind, neu aufzubauen eine Thorheit sein würde. Er giebt darauf eine eben so kräftige als wahre Schilderung von der schreck¬ lichen Auflösung aller Moralprincipien, deren Schauspiel darzubieten unsrem Jahrhundert vorbehalten war, und daraus zieht, er den Schluß, baß die Stunde geschlagen hat, wo die Menschheit ihr Leben nach den neuen Bedingungen gestalten muß, die so viele Unruhen und so merk¬ würdige Ereignisse nothwendig herbeigeführt haben. Bis dahin ist die¬ ser Aufsatz durchaus gerecht, vortrefflich gedacht und erhaben geschrie¬ ben. Aber nun fragt es sich, welches ist das Band, und gewisserma¬ ßen der Charakter einer Gesellschaft? Es ist die Religion! Larven verkündet laut, daß ohne Religion keine Gesellschaft möglich ist. Die¬ ser ganze an die Philosophen erlassene Aufruf besitzt die ernste Schön¬ heit, die ein bewährtes Urtheil über diese großen weltbewegenden Fra¬ gen verbreitet. Nun spricht Lerour von den Bedürfnissen der Gesell¬ schaft; er sieht die Zukunft durch die Begleichung mit der Vergangen¬ heitvoraus. Aber um zu finden, muß man erst über das, was man sucht, einverstanden sein, und man kann es nicht oft genug wiederholen, daß eine Frage halb gelöst ist, wenn sie richtig gestellt ist. Es giebt keine Gesellschaft ohne Glaubenslehren; die Religion ist nichts weiter als diese Glaubenslehren der Menschen''in ihrer Anwendung auf die Be¬ dürfnisse des Zusammenlebens. So wird die Religion, so wird die Gesellschaft beschaffen sein. Aber was für eine Religion wird es sein? Hier verläßt Herr Lerour die Philosophen, um mit den Staatsmännern zu discutiren. In dieser ersten Arbeit ist der socialistische Schriftsteller auf dem Felde der Analysis geblieben.. In dem Theil, dessen Prüfung jetzt folgen soll, ist er gezwungen zur Polemik herabzusteigen. Denn er muß fremde Ideen bekämpfen, ehe er die seinigen annehmbar macht. Die Staatsmänner siiid aber nicht etwa, wie man leicht meinen möchte, die Männer der Regierung, welche die Gesellschaft so genommen, wie sie sie vorgefunden. Nein! Nicht den Herrschern des Augenblicks predigt er, nicht ihnen will er seine Ueberzeugung beibringen; er wendet sich an.die, welche er für die Herren der kommenden Zeit hält. Die Sprache seiner Theorie richtet er an eine andere Theorie, die noch in mühsamen und bis jetzt unfruchtbaren Kindesnöthen ist, und es auch bleiben wird!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/240>, abgerufen am 02.07.2024.