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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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gemeinsamen Ziele verbinden, ohne sich vorher Wer die Zeitfrage ver¬
ständigt zu haben; und Ideen, die an einem Jahrhundert nicht zu viel
zu haben glauben, sollten billig ein Mißtrauen gegen Grundsätze hegen,
die nur eine Viertelstunde verlangen. Vergebens würde uns' übrigens
Herr Pierre Lerour das Beispiel seines großen Lehrers, I. I. Rous¬
seau, entgegenhalten, der in Haß und Liebe gleich stark war. Rousseau,
als socialistischer Philosoph hatte keinen politischen Haß; er lebte in
einer Gesellschaft, und träumte eine andere; daher verabscheute er jene.
Wir aber, die wir über 39 hinaus sind, haben nicht mehr die näm¬
liche Entschuldigung für unsern Haß. Die alte Welt hat ihre Rolle
ausgespielt; die neue hat begonnen: wir alle sind Arbeiter, deren Zweck
der Wiederaufbau ist: jeder Streit hält den Fortschritt des Werkes ans;
jeder Streit muß zu einer zweiten babylonischen Verwirrung führen und
das kann der Socialist nicht wollen. Wir finden also, daß Herr Pierre
Lerour die Kraft feiner Glaubenslehren selbst und aus eigenem freien
Willen schwächt, wenn er, ein vorzüglich synthetischer Geist, sich unter
die Leute der Critik und Analyse mischt. "Einem geschenkten Gaul
sieht man nicht in's Maul,// sagt das Sprüchwort: so handelt auch die
arti-dynastische Partei: sie nimmt seine Lehren an, um des Bösen wil¬
len das sie damit der Macht des Tages zufügen kann, und jede Phi¬
losophie dünkt ihr gut, wenn sie nur Opposition macht. Seht,
ob sie mit Lamennais, dem heftigen Ultramontanen von 1826, gefeilscht
hat? Sollte aber wirklich einmal der Tag kommen, wo die Revolu¬
tion, die sie mit ihrem Hauche anfache, in Erfüllung ginge, und sollte
der Priester-Politiker dann kommen, und wirklich für die Sache des
Evangeliums sprechen, -- gebt nur Acht, ob man dann nicht ihn und
seine alten Vorurtheile in's Irrenhaus schicken wird. Mag Herr
Pierre Lerour hierüber reiflich nachdenken: der Gegenstand ist der Mühe
werth.

Noch aber hat den Baumeister die Strafe feiner Verbindung mit
den Zerstörern nicht getroffen: vielmehr hat er seine Lehre in einer Reihe
sehr bedeutender Artikel entwickelt, die man als die Glaubensbekenntnisse
der, Kvvue incl6pe:na"nit> betrachten kann. Der erste dieser Artikel
(noch sind sie nicht alle erschienen) ist an die Philosophen gerichtet:
der zweite, der in mehrere Theile zerfällt, an die Staatsmänner.
Den Philosophen kündigt Herr Pierre Lerour die Nothwendigkeit eines
Umgusses der Principien an, auf denen die Gesellschaft beruht. Wie
in alsen Arbeiten der Art, so ist auch hier der kritische Theil der be-


gemeinsamen Ziele verbinden, ohne sich vorher Wer die Zeitfrage ver¬
ständigt zu haben; und Ideen, die an einem Jahrhundert nicht zu viel
zu haben glauben, sollten billig ein Mißtrauen gegen Grundsätze hegen,
die nur eine Viertelstunde verlangen. Vergebens würde uns' übrigens
Herr Pierre Lerour das Beispiel seines großen Lehrers, I. I. Rous¬
seau, entgegenhalten, der in Haß und Liebe gleich stark war. Rousseau,
als socialistischer Philosoph hatte keinen politischen Haß; er lebte in
einer Gesellschaft, und träumte eine andere; daher verabscheute er jene.
Wir aber, die wir über 39 hinaus sind, haben nicht mehr die näm¬
liche Entschuldigung für unsern Haß. Die alte Welt hat ihre Rolle
ausgespielt; die neue hat begonnen: wir alle sind Arbeiter, deren Zweck
der Wiederaufbau ist: jeder Streit hält den Fortschritt des Werkes ans;
jeder Streit muß zu einer zweiten babylonischen Verwirrung führen und
das kann der Socialist nicht wollen. Wir finden also, daß Herr Pierre
Lerour die Kraft feiner Glaubenslehren selbst und aus eigenem freien
Willen schwächt, wenn er, ein vorzüglich synthetischer Geist, sich unter
die Leute der Critik und Analyse mischt. „Einem geschenkten Gaul
sieht man nicht in's Maul,// sagt das Sprüchwort: so handelt auch die
arti-dynastische Partei: sie nimmt seine Lehren an, um des Bösen wil¬
len das sie damit der Macht des Tages zufügen kann, und jede Phi¬
losophie dünkt ihr gut, wenn sie nur Opposition macht. Seht,
ob sie mit Lamennais, dem heftigen Ultramontanen von 1826, gefeilscht
hat? Sollte aber wirklich einmal der Tag kommen, wo die Revolu¬
tion, die sie mit ihrem Hauche anfache, in Erfüllung ginge, und sollte
der Priester-Politiker dann kommen, und wirklich für die Sache des
Evangeliums sprechen, — gebt nur Acht, ob man dann nicht ihn und
seine alten Vorurtheile in's Irrenhaus schicken wird. Mag Herr
Pierre Lerour hierüber reiflich nachdenken: der Gegenstand ist der Mühe
werth.

Noch aber hat den Baumeister die Strafe feiner Verbindung mit
den Zerstörern nicht getroffen: vielmehr hat er seine Lehre in einer Reihe
sehr bedeutender Artikel entwickelt, die man als die Glaubensbekenntnisse
der, Kvvue incl6pe:na»nit> betrachten kann. Der erste dieser Artikel
(noch sind sie nicht alle erschienen) ist an die Philosophen gerichtet:
der zweite, der in mehrere Theile zerfällt, an die Staatsmänner.
Den Philosophen kündigt Herr Pierre Lerour die Nothwendigkeit eines
Umgusses der Principien an, auf denen die Gesellschaft beruht. Wie
in alsen Arbeiten der Art, so ist auch hier der kritische Theil der be-


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[0239] gemeinsamen Ziele verbinden, ohne sich vorher Wer die Zeitfrage ver¬ ständigt zu haben; und Ideen, die an einem Jahrhundert nicht zu viel zu haben glauben, sollten billig ein Mißtrauen gegen Grundsätze hegen, die nur eine Viertelstunde verlangen. Vergebens würde uns' übrigens Herr Pierre Lerour das Beispiel seines großen Lehrers, I. I. Rous¬ seau, entgegenhalten, der in Haß und Liebe gleich stark war. Rousseau, als socialistischer Philosoph hatte keinen politischen Haß; er lebte in einer Gesellschaft, und träumte eine andere; daher verabscheute er jene. Wir aber, die wir über 39 hinaus sind, haben nicht mehr die näm¬ liche Entschuldigung für unsern Haß. Die alte Welt hat ihre Rolle ausgespielt; die neue hat begonnen: wir alle sind Arbeiter, deren Zweck der Wiederaufbau ist: jeder Streit hält den Fortschritt des Werkes ans; jeder Streit muß zu einer zweiten babylonischen Verwirrung führen und das kann der Socialist nicht wollen. Wir finden also, daß Herr Pierre Lerour die Kraft feiner Glaubenslehren selbst und aus eigenem freien Willen schwächt, wenn er, ein vorzüglich synthetischer Geist, sich unter die Leute der Critik und Analyse mischt. „Einem geschenkten Gaul sieht man nicht in's Maul,// sagt das Sprüchwort: so handelt auch die arti-dynastische Partei: sie nimmt seine Lehren an, um des Bösen wil¬ len das sie damit der Macht des Tages zufügen kann, und jede Phi¬ losophie dünkt ihr gut, wenn sie nur Opposition macht. Seht, ob sie mit Lamennais, dem heftigen Ultramontanen von 1826, gefeilscht hat? Sollte aber wirklich einmal der Tag kommen, wo die Revolu¬ tion, die sie mit ihrem Hauche anfache, in Erfüllung ginge, und sollte der Priester-Politiker dann kommen, und wirklich für die Sache des Evangeliums sprechen, — gebt nur Acht, ob man dann nicht ihn und seine alten Vorurtheile in's Irrenhaus schicken wird. Mag Herr Pierre Lerour hierüber reiflich nachdenken: der Gegenstand ist der Mühe werth. Noch aber hat den Baumeister die Strafe feiner Verbindung mit den Zerstörern nicht getroffen: vielmehr hat er seine Lehre in einer Reihe sehr bedeutender Artikel entwickelt, die man als die Glaubensbekenntnisse der, Kvvue incl6pe:na»nit> betrachten kann. Der erste dieser Artikel (noch sind sie nicht alle erschienen) ist an die Philosophen gerichtet: der zweite, der in mehrere Theile zerfällt, an die Staatsmänner. Den Philosophen kündigt Herr Pierre Lerour die Nothwendigkeit eines Umgusses der Principien an, auf denen die Gesellschaft beruht. Wie in alsen Arbeiten der Art, so ist auch hier der kritische Theil der be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/239>, abgerufen am 04.07.2024.