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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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nackter Verstand streift der Welt allen Glanz und Schimmer, alle Würde'
der Tradition, alle ritterliche Einbildung ab. -- Das Kapitel über die
theatralischen Mysterien und Sitten stücke des Mittelalters gehört
zu den reichhaltigsten des Buches. In jenen Spielen treibt und kocht
der spöttische Schalkswitz, der nichts Pathetisches aushalten kann. Man
will das Mysterium sinnlich haben, und es geschah, wie nothwendig, daß
die sinnliche Faßbarkeit das Geheimniß alles Zaubers, alles höhern Ge¬
fühles beraubte. Das Alles waren mächtige Vorarbeiten der Reform"-
tionszeit, welche sich schon durch den größten Theil des Mittelalters hin¬
ziehen; denn sobald man einmal aus dem Cultus in die Kunst über¬
gewandert ist, geht es mit der zeitlichen Gestalt desselben zu Ende.
Franz I. verbot der Schaubühne die heiligen Gegenstände, aber es war
zu spät, der Witz, der alle Lasten abschüttelt, machte sich, unterdrückt,
nur zu einem desto gründlicheren Umschwunge Lust. Denn im Geistes¬
leben giebt es keine nachhallend wirksame Reaction, die bloße Reaction
und Hemmung der Lebcnstriebc ist immer ein Zeichen, daß, man der wahren
Forderungen eines Zeitalters nicht mächtig sei.

Der zweite Band behandelt die französische Literatur wäh¬
rend des sechszehnten Jahrhunderts. Von hier an wird uns
die Geschichte vertrauter; die Darstellung wird merklich belebter, raison-
nirender, zusammenhängender. - "Je mehr man sich dem 16. Jahrhundert
nähert, sagt Herr Baron, desto mehr ichließt sich die literarische und
intellectuelle Cultur dem Gesellschaftsleben des Volkes an." Denn im¬
mer tiefer verbindet sich die Wissenschaft und schöne Literatur mit den
Vor- und Nückwärtöstrebungen der Zeitgeschichte, überall neue Cultur¬
gänge ausforschend. -- Vom Eintritt der Reformation an, scheint mir, stellen
sich drei Hauptrichtungen in der Literatur heraus. Zuerst begegnen wir,
vornehmlich im 16. Jahrhundert, dem erwähnten Eingreifen der'literari¬
schen in die wirkliche Welt. Sodann, in der klassischen Periode Frankreichs,
gelangt die Literatur zu einer eignen Form; sie vollendet sich ästhetisch,
als ein künstlerisches Eigenthum der höhern, namentlich der Hofgesell¬
schaft. Darnach beginnt abermals, -- denn bloße Fortsetzungen deö
bisherigen Styles bis zu unsern Tagen dürfen die Periodik nicht stören, --
ein Zurückwenden auf das reale Sein, wie bei Voltaire, Rousseau,
u. a., wohin auch die spätern socialistischen Tendenzen gehören, denn so
irr und haltlos sie auch noch umhertnstcn, sind sie doch als Symptome
einer noch vorbereitenden Epoche anzuschlagen, welche auf kein anderes
Ziel hinsteuern muß, als die Ideen des Staates, der Geschichte und


nackter Verstand streift der Welt allen Glanz und Schimmer, alle Würde'
der Tradition, alle ritterliche Einbildung ab. — Das Kapitel über die
theatralischen Mysterien und Sitten stücke des Mittelalters gehört
zu den reichhaltigsten des Buches. In jenen Spielen treibt und kocht
der spöttische Schalkswitz, der nichts Pathetisches aushalten kann. Man
will das Mysterium sinnlich haben, und es geschah, wie nothwendig, daß
die sinnliche Faßbarkeit das Geheimniß alles Zaubers, alles höhern Ge¬
fühles beraubte. Das Alles waren mächtige Vorarbeiten der Reform«-
tionszeit, welche sich schon durch den größten Theil des Mittelalters hin¬
ziehen; denn sobald man einmal aus dem Cultus in die Kunst über¬
gewandert ist, geht es mit der zeitlichen Gestalt desselben zu Ende.
Franz I. verbot der Schaubühne die heiligen Gegenstände, aber es war
zu spät, der Witz, der alle Lasten abschüttelt, machte sich, unterdrückt,
nur zu einem desto gründlicheren Umschwunge Lust. Denn im Geistes¬
leben giebt es keine nachhallend wirksame Reaction, die bloße Reaction
und Hemmung der Lebcnstriebc ist immer ein Zeichen, daß, man der wahren
Forderungen eines Zeitalters nicht mächtig sei.

Der zweite Band behandelt die französische Literatur wäh¬
rend des sechszehnten Jahrhunderts. Von hier an wird uns
die Geschichte vertrauter; die Darstellung wird merklich belebter, raison-
nirender, zusammenhängender. - „Je mehr man sich dem 16. Jahrhundert
nähert, sagt Herr Baron, desto mehr ichließt sich die literarische und
intellectuelle Cultur dem Gesellschaftsleben des Volkes an." Denn im¬
mer tiefer verbindet sich die Wissenschaft und schöne Literatur mit den
Vor- und Nückwärtöstrebungen der Zeitgeschichte, überall neue Cultur¬
gänge ausforschend. — Vom Eintritt der Reformation an, scheint mir, stellen
sich drei Hauptrichtungen in der Literatur heraus. Zuerst begegnen wir,
vornehmlich im 16. Jahrhundert, dem erwähnten Eingreifen der'literari¬
schen in die wirkliche Welt. Sodann, in der klassischen Periode Frankreichs,
gelangt die Literatur zu einer eignen Form; sie vollendet sich ästhetisch,
als ein künstlerisches Eigenthum der höhern, namentlich der Hofgesell¬
schaft. Darnach beginnt abermals, — denn bloße Fortsetzungen deö
bisherigen Styles bis zu unsern Tagen dürfen die Periodik nicht stören, —
ein Zurückwenden auf das reale Sein, wie bei Voltaire, Rousseau,
u. a., wohin auch die spätern socialistischen Tendenzen gehören, denn so
irr und haltlos sie auch noch umhertnstcn, sind sie doch als Symptome
einer noch vorbereitenden Epoche anzuschlagen, welche auf kein anderes
Ziel hinsteuern muß, als die Ideen des Staates, der Geschichte und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/223>, abgerufen am 29.06.2024.