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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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Verfasser der Art anführt, das, besonnene Mittelmaß/ betrifft mehr den
Styl. Eine entschiedene Neigung zu ethischer Reflexion, womit das P"
litische zusammenhängt, und dem die Lust an Witz und' Satire keines¬
wegs widerspricht, 'und, zugleich das Lyrische, die subjektive Erregung,
lassen sich wohl in der französischen Literatur wahrnehmen; beides trifft
dann in der rhetorischen Tendenz zusammen, welche oftmals, in der^
Dichtung sowohl als in der Prosa,, der Nerv zu sein scheint. Den Geist
der "Gesellschaftlichkeit" erkenne ich riur in beschränkter Art im franzö"
fischen Leben, nämlich nur insoweit, als er auf den Prinzipien der Centra¬
lisation und Gleichheit beruht. In der deutschen Geschichte offenbart sich
der Gcsellschaftsgcist nicht minder stark, aus gradezu entgegengesetzten
Grandtrieben; wir haben in Frankreich, neben dem Sinn für Ordnung
und Zusammenhalt, viel glatte Unterschiedslosigkeit, und in Deutschland
eine desto reichere Fülle lebendiger Selbstenwicklung; und es ist wohl
nicht paradox zu sagen, daß die innere Freiheit aus Seite der letzteren sei.

Der Verfasser wendet sich darnach zur Geschichte der Romane und
Märchen nach den verschiedenen Sagenkreisen, zu den allegorischen, di¬
daktischen und satirischen Gedichten und zur Lyrik, Gegenstände, die, wie
das ganze Werk, mit jener gelehrten Sachkenntniß behandelt werden, zu
der wir uns nicht beurtheilend sondern lar lernend verhalten können.

Bemerkenswert!) ist die Ansicht: "sobald ein Werk ernster Gattung,
im Ganzen, wahrhaft und vollkommen gut ist, so darf man sicher sein,
daß es später als aus Jahr 1öl)l) falle." So hat also die mittelalter¬
liche Literatur Frankreichs keine Formvollendung im Großen erreicht;
sie ergeht sich noch in einzelnen und ungeordneten Versuchen, während
die deutsche Dichtung schon im Nibelungenliede ein Werk besaß, das an
Gediegenheit der Form, im dramatischen Ausbau keine Vergleichung zu
scheuen hat. -- Besonder? anziehend ist, waS über Viktor gesagt wird, den
Repräsentanten des Pariser Pöbels im fünfzehnte!? Jahrhundert, "ein
formloses Gemisch von theoretischem Verstand und praktischer Unsitt-
lichkeit, äußerem Elend und christlichem Glauben, ausschweifend, lustig,
so wenig gewissenhaft über das Mein und Dein, daß er zweimal den
Strang verdiente, und nur, wie durch eine Laune des Zufalls, Ludwig
dem XI. das Leben verdankte." 'Viktor, bemerkt Herr Baron, ist der
Ludwig XZ. der Poesie, wie dieser der Viktor des Königthums. Die
geniale Gemeinheit, der durchtriebene, tangenichtshaste Witz dieses Sängers
des Galgens sind in der That einzig; wir sehen da den ersten Schö߬
ling der französischen Poesie aus dem Koth aufsprießen. Ein grausamer,


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Verfasser der Art anführt, das, besonnene Mittelmaß/ betrifft mehr den
Styl. Eine entschiedene Neigung zu ethischer Reflexion, womit das P»
litische zusammenhängt, und dem die Lust an Witz und' Satire keines¬
wegs widerspricht, 'und, zugleich das Lyrische, die subjektive Erregung,
lassen sich wohl in der französischen Literatur wahrnehmen; beides trifft
dann in der rhetorischen Tendenz zusammen, welche oftmals, in der^
Dichtung sowohl als in der Prosa,, der Nerv zu sein scheint. Den Geist
der „Gesellschaftlichkeit" erkenne ich riur in beschränkter Art im franzö«
fischen Leben, nämlich nur insoweit, als er auf den Prinzipien der Centra¬
lisation und Gleichheit beruht. In der deutschen Geschichte offenbart sich
der Gcsellschaftsgcist nicht minder stark, aus gradezu entgegengesetzten
Grandtrieben; wir haben in Frankreich, neben dem Sinn für Ordnung
und Zusammenhalt, viel glatte Unterschiedslosigkeit, und in Deutschland
eine desto reichere Fülle lebendiger Selbstenwicklung; und es ist wohl
nicht paradox zu sagen, daß die innere Freiheit aus Seite der letzteren sei.

Der Verfasser wendet sich darnach zur Geschichte der Romane und
Märchen nach den verschiedenen Sagenkreisen, zu den allegorischen, di¬
daktischen und satirischen Gedichten und zur Lyrik, Gegenstände, die, wie
das ganze Werk, mit jener gelehrten Sachkenntniß behandelt werden, zu
der wir uns nicht beurtheilend sondern lar lernend verhalten können.

Bemerkenswert!) ist die Ansicht: „sobald ein Werk ernster Gattung,
im Ganzen, wahrhaft und vollkommen gut ist, so darf man sicher sein,
daß es später als aus Jahr 1öl)l) falle." So hat also die mittelalter¬
liche Literatur Frankreichs keine Formvollendung im Großen erreicht;
sie ergeht sich noch in einzelnen und ungeordneten Versuchen, während
die deutsche Dichtung schon im Nibelungenliede ein Werk besaß, das an
Gediegenheit der Form, im dramatischen Ausbau keine Vergleichung zu
scheuen hat. — Besonder? anziehend ist, waS über Viktor gesagt wird, den
Repräsentanten des Pariser Pöbels im fünfzehnte!? Jahrhundert, „ein
formloses Gemisch von theoretischem Verstand und praktischer Unsitt-
lichkeit, äußerem Elend und christlichem Glauben, ausschweifend, lustig,
so wenig gewissenhaft über das Mein und Dein, daß er zweimal den
Strang verdiente, und nur, wie durch eine Laune des Zufalls, Ludwig
dem XI. das Leben verdankte." 'Viktor, bemerkt Herr Baron, ist der
Ludwig XZ. der Poesie, wie dieser der Viktor des Königthums. Die
geniale Gemeinheit, der durchtriebene, tangenichtshaste Witz dieses Sängers
des Galgens sind in der That einzig; wir sehen da den ersten Schö߬
ling der französischen Poesie aus dem Koth aufsprießen. Ein grausamer,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/222>, abgerufen am 26.06.2024.