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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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das Flamändische wie ein altes Mütterchen am Wege sitzen geblieben ist.
Aber immerhin ist es ihr Enkel/ ein Sprößling, der aus ihrem Schoße
hervorgegangen ist, der jetzt in Deutschland auf dem Throne sitzt. In
Frankreich ist es die langte et'oil welche die Herrschaft behauptet hat.
Die Bezeichnung Z-u^ne ä'oU erklärt der Literaturhistoriker Baron als:
die Sprache der Gäulen und Wallonen (011, txai-isj 'HV-nich, Wal-
Ions), so sehen Wir denn in Deutschland ein Kind des Flamändi-
scheu,, in Frankreich ein Kind des Wallonischen das Zepter führen.
Wahrlich die alte Mutter Belgien kann zufrieden sein.

Wenn wir nun aber im Allgemeinen angenommen, daß die wört¬
liche Ausdrucksweise mehr den Aeußerungen des Verstandes, als denen
des Gefühls günstig ist, und deßhalb daß die französische Sprache in
cousequenter Weise eine Sprache ist/ welche mehr von dem Geist, als
von der Empfindung' durchströmt wird, so könnte man fragen: wie kömmt es,
daß man der deutschen Sprache nicht denselben Vorwurf machen kann, da doch,
in ihr gleichfalls die nördliche Ausdrucksweise die Oberhand gewonnen? Diese
Frage glaube ich- nicht besser beantworten zu können, als indem ich auf ein,
früher gebrauchtes Gleichniß zurückkomme. Ich habe die südliche Mund¬
art ein Weib genannt, und die nördliche einen Mann. Nun denn, in
Frankreich hat sich die südliche Mundart schon im dreizehnten Jahrhun¬
dert mit der nördlichen vermählt, sie war damals noch ein junges Mäd¬
chen, unerfahren und ohne Kenntniß ihres Rechtes und ihres Werthes;,
da'wurde es dem Manne leicht, seinen Willen geltend zu machen, und
als ein Alleinherrscher sich zu proklamiren. In Deutschland hingegen
verehelichte sich die südliche Sprache mit der nördlichen erst iM sechszehn¬
ten Jahrhunderte; sie war reifer, gebildeter, hatte mehr Selbstbewußtsein,,
ihre Stellung im Volke war sicherer, ihre Freunde warenmächtig und zahl¬
reich, und als der Mann sich mit ihr verband, da mußte er ihr gar
mancherlei Zugeständnisse machen. Nicht mit ihrer ganzen Morgcngabe
durfte er wiMhrlich verfahren, ein guter Theil mußte angewendet wer¬
den, wie sie eS verlangte, und wie es früher in ihrem väterlichen Hause
Sitte war. So kömmt es, daß in der deutschen Sprache noch immer ein
reicher Schatz von alten Goldworten unberührt, und uneingcschmolzen
aufbewahrt liegt. Hier und da hat sich zwar die Form einzelner Mur-



, Die Einwendung, die hier zu machen wäre, möge man durch dis Berück¬
sichtigung des Auditoriums modifiziren.
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das Flamändische wie ein altes Mütterchen am Wege sitzen geblieben ist.
Aber immerhin ist es ihr Enkel/ ein Sprößling, der aus ihrem Schoße
hervorgegangen ist, der jetzt in Deutschland auf dem Throne sitzt. In
Frankreich ist es die langte et'oil welche die Herrschaft behauptet hat.
Die Bezeichnung Z-u^ne ä'oU erklärt der Literaturhistoriker Baron als:
die Sprache der Gäulen und Wallonen (011, txai-isj 'HV-nich, Wal-
Ions), so sehen Wir denn in Deutschland ein Kind des Flamändi-
scheu,, in Frankreich ein Kind des Wallonischen das Zepter führen.
Wahrlich die alte Mutter Belgien kann zufrieden sein.

Wenn wir nun aber im Allgemeinen angenommen, daß die wört¬
liche Ausdrucksweise mehr den Aeußerungen des Verstandes, als denen
des Gefühls günstig ist, und deßhalb daß die französische Sprache in
cousequenter Weise eine Sprache ist/ welche mehr von dem Geist, als
von der Empfindung' durchströmt wird, so könnte man fragen: wie kömmt es,
daß man der deutschen Sprache nicht denselben Vorwurf machen kann, da doch,
in ihr gleichfalls die nördliche Ausdrucksweise die Oberhand gewonnen? Diese
Frage glaube ich- nicht besser beantworten zu können, als indem ich auf ein,
früher gebrauchtes Gleichniß zurückkomme. Ich habe die südliche Mund¬
art ein Weib genannt, und die nördliche einen Mann. Nun denn, in
Frankreich hat sich die südliche Mundart schon im dreizehnten Jahrhun¬
dert mit der nördlichen vermählt, sie war damals noch ein junges Mäd¬
chen, unerfahren und ohne Kenntniß ihres Rechtes und ihres Werthes;,
da'wurde es dem Manne leicht, seinen Willen geltend zu machen, und
als ein Alleinherrscher sich zu proklamiren. In Deutschland hingegen
verehelichte sich die südliche Sprache mit der nördlichen erst iM sechszehn¬
ten Jahrhunderte; sie war reifer, gebildeter, hatte mehr Selbstbewußtsein,,
ihre Stellung im Volke war sicherer, ihre Freunde warenmächtig und zahl¬
reich, und als der Mann sich mit ihr verband, da mußte er ihr gar
mancherlei Zugeständnisse machen. Nicht mit ihrer ganzen Morgcngabe
durfte er wiMhrlich verfahren, ein guter Theil mußte angewendet wer¬
den, wie sie eS verlangte, und wie es früher in ihrem väterlichen Hause
Sitte war. So kömmt es, daß in der deutschen Sprache noch immer ein
reicher Schatz von alten Goldworten unberührt, und uneingcschmolzen
aufbewahrt liegt. Hier und da hat sich zwar die Form einzelner Mur-



, Die Einwendung, die hier zu machen wäre, möge man durch dis Berück¬
sichtigung des Auditoriums modifiziren.
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[0021] das Flamändische wie ein altes Mütterchen am Wege sitzen geblieben ist. Aber immerhin ist es ihr Enkel/ ein Sprößling, der aus ihrem Schoße hervorgegangen ist, der jetzt in Deutschland auf dem Throne sitzt. In Frankreich ist es die langte et'oil welche die Herrschaft behauptet hat. Die Bezeichnung Z-u^ne ä'oU erklärt der Literaturhistoriker Baron als: die Sprache der Gäulen und Wallonen (011, txai-isj 'HV-nich, Wal- Ions), so sehen Wir denn in Deutschland ein Kind des Flamändi- scheu,, in Frankreich ein Kind des Wallonischen das Zepter führen. Wahrlich die alte Mutter Belgien kann zufrieden sein. Wenn wir nun aber im Allgemeinen angenommen, daß die wört¬ liche Ausdrucksweise mehr den Aeußerungen des Verstandes, als denen des Gefühls günstig ist, und deßhalb daß die französische Sprache in cousequenter Weise eine Sprache ist/ welche mehr von dem Geist, als von der Empfindung' durchströmt wird, so könnte man fragen: wie kömmt es, daß man der deutschen Sprache nicht denselben Vorwurf machen kann, da doch, in ihr gleichfalls die nördliche Ausdrucksweise die Oberhand gewonnen? Diese Frage glaube ich- nicht besser beantworten zu können, als indem ich auf ein, früher gebrauchtes Gleichniß zurückkomme. Ich habe die südliche Mund¬ art ein Weib genannt, und die nördliche einen Mann. Nun denn, in Frankreich hat sich die südliche Mundart schon im dreizehnten Jahrhun¬ dert mit der nördlichen vermählt, sie war damals noch ein junges Mäd¬ chen, unerfahren und ohne Kenntniß ihres Rechtes und ihres Werthes;, da'wurde es dem Manne leicht, seinen Willen geltend zu machen, und als ein Alleinherrscher sich zu proklamiren. In Deutschland hingegen verehelichte sich die südliche Sprache mit der nördlichen erst iM sechszehn¬ ten Jahrhunderte; sie war reifer, gebildeter, hatte mehr Selbstbewußtsein,, ihre Stellung im Volke war sicherer, ihre Freunde warenmächtig und zahl¬ reich, und als der Mann sich mit ihr verband, da mußte er ihr gar mancherlei Zugeständnisse machen. Nicht mit ihrer ganzen Morgcngabe durfte er wiMhrlich verfahren, ein guter Theil mußte angewendet wer¬ den, wie sie eS verlangte, und wie es früher in ihrem väterlichen Hause Sitte war. So kömmt es, daß in der deutschen Sprache noch immer ein reicher Schatz von alten Goldworten unberührt, und uneingcschmolzen aufbewahrt liegt. Hier und da hat sich zwar die Form einzelner Mur- , Die Einwendung, die hier zu machen wäre, möge man durch dis Berück¬ sichtigung des Auditoriums modifiziren. 2»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/21>, abgerufen am 04.07.2024.