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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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deutschn, Ursprungs. Bei uns heißen diese Albums Stamm-Bücher.
Es ist dieselbe Geschichte wie mit jenem Ungar, der auf der Rhein-
brücke steht und den man fragt, wie ihm denn der Rhein gefiele: Es
is alles sehr schön, aber bei uns beißen sie's holt Donau! Die Idee
der Stammbücher ist so acht deutsch, so ächt sentimental, so ächt wer-
therleiderisch, daß sie nur in einem Kopfe mit blonden Haaren und
blauen deutschen Augen entstanden sein kann.

Wenn man nämlich im Begriffe war, eine Reise von langer Dauer
zu unternehmen, so hatte man die Gewohnheit, seinen Freunden ein lee¬
res Buch zuzustellen, in das ein Jeder etwas zur Erinnerung hinein¬
schrieb oder hineinzeichnete;' die erwachsenen Verwandten, die ernsthaften
Freunde benutzten das leere Buch, um dem Reisenden zugleich mit dem
Gedanken der Trennung ernsthafte Rathschläge zu geben. In der Ent¬
fernung von der Heimath war dies Buch ein Zauberspiegel, worin man
alle abwesenden Freunde wiedersah; und in jenen Augenblicken der Ein¬
samkeit und der Trauer, wo es der Seele ein tiefes Bedürfniß ist, ihre
Schmerzen in eine andere zu ergießen, da brauchte man nur sein Stamm¬
buch zu öffnen, und man fand befreundete Herzen genug, mit denen man
sich traulich aussprechen konnte^ DaS Album war also ursprünglich
ein Buch des Herzens, in welchem man alle seine liebsten Zuneigun¬
gen, alle seine Freundschaften beisammen fand, kurz ein deutsches Taschenbuch.
,' In der Kaiserzeit jedoch, wo nicht nur franzöffiche und deutsche
Sitten, sondern auch deutsche und französische Männer- und Wei¬
berb, erzen bunt durcheinander geworfen wurden,,, da wanderten die
Stammbücher über die deutsche Grenze nach Frankreich hinüber. Es
ist historisch nicht genau nachzuweisen, ob die französischen Ossi'clere, als
sie von den Feldzügen in Deutschland zurückkamen, dieselben als zärtliche
Andenken mitgebracht haben, oder ob die deutschen Armeen bei ihrem
Besuche in Paris sie dort als dankbare Geschenke hinterließen; genng
kaum war Ludwig XVII?. auf seinem Throne wieder installirt, da
brach die Stammbuch-Manie in Paris aus.

Aber der Volkscharakter diesseits und jenseits des Rheins ist so
verschieden! Wie hätte sich die primitive deutsche Idee ans die Länge er¬
halten können; die Eitelkeit hat dort den Sieg über die Gefühle deö
Herzens davon getragen. Ein Album galt bald für nichts, wenn man
es nicht zeigen, wenn' es nicht zum Gegenstande des- Gesprächs dienen
konnte. Man besaß ein Album nicht mehr für sich, nein, für! seine
Freunde, für Diejenigen, deren Neid man dadurch erwecken wollte. Wenn,


deutschn, Ursprungs. Bei uns heißen diese Albums Stamm-Bücher.
Es ist dieselbe Geschichte wie mit jenem Ungar, der auf der Rhein-
brücke steht und den man fragt, wie ihm denn der Rhein gefiele: Es
is alles sehr schön, aber bei uns beißen sie's holt Donau! Die Idee
der Stammbücher ist so acht deutsch, so ächt sentimental, so ächt wer-
therleiderisch, daß sie nur in einem Kopfe mit blonden Haaren und
blauen deutschen Augen entstanden sein kann.

Wenn man nämlich im Begriffe war, eine Reise von langer Dauer
zu unternehmen, so hatte man die Gewohnheit, seinen Freunden ein lee¬
res Buch zuzustellen, in das ein Jeder etwas zur Erinnerung hinein¬
schrieb oder hineinzeichnete;' die erwachsenen Verwandten, die ernsthaften
Freunde benutzten das leere Buch, um dem Reisenden zugleich mit dem
Gedanken der Trennung ernsthafte Rathschläge zu geben. In der Ent¬
fernung von der Heimath war dies Buch ein Zauberspiegel, worin man
alle abwesenden Freunde wiedersah; und in jenen Augenblicken der Ein¬
samkeit und der Trauer, wo es der Seele ein tiefes Bedürfniß ist, ihre
Schmerzen in eine andere zu ergießen, da brauchte man nur sein Stamm¬
buch zu öffnen, und man fand befreundete Herzen genug, mit denen man
sich traulich aussprechen konnte^ DaS Album war also ursprünglich
ein Buch des Herzens, in welchem man alle seine liebsten Zuneigun¬
gen, alle seine Freundschaften beisammen fand, kurz ein deutsches Taschenbuch.
,' In der Kaiserzeit jedoch, wo nicht nur franzöffiche und deutsche
Sitten, sondern auch deutsche und französische Männer- und Wei¬
berb, erzen bunt durcheinander geworfen wurden,,, da wanderten die
Stammbücher über die deutsche Grenze nach Frankreich hinüber. Es
ist historisch nicht genau nachzuweisen, ob die französischen Ossi'clere, als
sie von den Feldzügen in Deutschland zurückkamen, dieselben als zärtliche
Andenken mitgebracht haben, oder ob die deutschen Armeen bei ihrem
Besuche in Paris sie dort als dankbare Geschenke hinterließen; genng
kaum war Ludwig XVII?. auf seinem Throne wieder installirt, da
brach die Stammbuch-Manie in Paris aus.

Aber der Volkscharakter diesseits und jenseits des Rheins ist so
verschieden! Wie hätte sich die primitive deutsche Idee ans die Länge er¬
halten können; die Eitelkeit hat dort den Sieg über die Gefühle deö
Herzens davon getragen. Ein Album galt bald für nichts, wenn man
es nicht zeigen, wenn' es nicht zum Gegenstande des- Gesprächs dienen
konnte. Man besaß ein Album nicht mehr für sich, nein, für! seine
Freunde, für Diejenigen, deren Neid man dadurch erwecken wollte. Wenn,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/205>, abgerufen am 02.07.2024.