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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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ladungm zu Diner's, zu Bällen, zu Soiröe's, wird man belehrt, daß
man sich nicht ungestraft den Verpflichtungen entzieht, die der Gebrauch
uns auflegt. "Es ist sonderbar," sagt ein Wer Beamter, der Karten
zu Tausenden empfängt, "ich habe die Karte des Herrn N.N. nicht ge¬
sehen, und doch, wenn er mich braucht, weiß er mich recht gut zu fin¬
den." Man kann sich darauf verlassen, daß die. Vergeßlichkeit wohl
"et not-un genommen worden ist; der sie begangen l)at, wird es früher
oder später schon gewahr werden. "Herr N. N. muß verreist sein,"
sagt eine Dame, "wir haben keine Karte von ihm erhalten." Diesem
Herrn N. N. ist man vielleicht erst gestern begegnet und doch ist er jetzt
officiell als verreist, erklärt, und bis auf weiteren Befehl ist sein Name
von allen Einladungslisten gestrichen. Wir wissen wirklich nicht, wie
man diese Entdeckungen macht, aber man macht sie;' und plötzliche Er¬
kältungen, die man sich nicht erklären kann, Abbrechungen von Verhält¬
nissen aus unbekannt bleibenden Beweggründen, kleine administrative Un¬
gnaden ohne offenbare Ursachen -- alles dies, was sich jedes Jahr wie¬
derholt, hat keinen andren Ursprung, als eine kleine Vergeßlichkeit, die
man sich in Uebersendung oder Abgabe von Visitenkarten hat zu Schul¬
den kommen lassen.

Wenn das nun in unseren Gesellschaftskreisen so ist, so müssen, bei
gleichbleibenden Verhältnissen, in höheren Regionen dieselben Ursachen
entsprechende Wirkungen hervorbringen. Zwischen einem König und dein
andern, einem Herrscher und dem andern ist der Gebrauch der Visiten¬
karten noch nicht eingeführt; anstatt eines gestochenen, bedruckten oder ki--
thographirten, viereckigen Stückes Pappe schicken die Könige einander or¬
dentliche oder außerordentliche Gesandte, bevollmächtigte Minister u.s.w.
zu. Im Grund ist das ganz und' gar die nämliche Sache. Wenn alle
Gesandten am bestimmten Tage auf ihrem Posten sind, so findet man
sie vollkommen langweilig; fehlt aber einer, so wird man übellaunig,
man schmollt, man braucht Repressalien; und oft reicht das hin, um den
Weltfrieden zu stören.

So konnte vielleicht der Friede, dessen wir uns jetzt erfreuen, ge¬
stört werden^ weil der Kaiser von Rußland willentlich vergessen hat, dem
König der Franzosen für den 1. Januar 1842 seine Visitenkarte zu
schicken, ebenso wie der König der Franzosen willentlich vergessen hatte,
dem Kaiser von Rußland die seine am Se. Nikolaus-Tage zu schicken.

Der Friede, dessen wir uns erfreuen, ist zwar nicht ganz
der Univerfnlfriede, wie ihn jener treffliche Abb6 Se. Pierre geträumt


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ladungm zu Diner's, zu Bällen, zu Soiröe's, wird man belehrt, daß
man sich nicht ungestraft den Verpflichtungen entzieht, die der Gebrauch
uns auflegt. „Es ist sonderbar," sagt ein Wer Beamter, der Karten
zu Tausenden empfängt, "ich habe die Karte des Herrn N.N. nicht ge¬
sehen, und doch, wenn er mich braucht, weiß er mich recht gut zu fin¬
den." Man kann sich darauf verlassen, daß die. Vergeßlichkeit wohl
»et not-un genommen worden ist; der sie begangen l)at, wird es früher
oder später schon gewahr werden. "Herr N. N. muß verreist sein,"
sagt eine Dame, "wir haben keine Karte von ihm erhalten." Diesem
Herrn N. N. ist man vielleicht erst gestern begegnet und doch ist er jetzt
officiell als verreist, erklärt, und bis auf weiteren Befehl ist sein Name
von allen Einladungslisten gestrichen. Wir wissen wirklich nicht, wie
man diese Entdeckungen macht, aber man macht sie;' und plötzliche Er¬
kältungen, die man sich nicht erklären kann, Abbrechungen von Verhält¬
nissen aus unbekannt bleibenden Beweggründen, kleine administrative Un¬
gnaden ohne offenbare Ursachen — alles dies, was sich jedes Jahr wie¬
derholt, hat keinen andren Ursprung, als eine kleine Vergeßlichkeit, die
man sich in Uebersendung oder Abgabe von Visitenkarten hat zu Schul¬
den kommen lassen.

Wenn das nun in unseren Gesellschaftskreisen so ist, so müssen, bei
gleichbleibenden Verhältnissen, in höheren Regionen dieselben Ursachen
entsprechende Wirkungen hervorbringen. Zwischen einem König und dein
andern, einem Herrscher und dem andern ist der Gebrauch der Visiten¬
karten noch nicht eingeführt; anstatt eines gestochenen, bedruckten oder ki--
thographirten, viereckigen Stückes Pappe schicken die Könige einander or¬
dentliche oder außerordentliche Gesandte, bevollmächtigte Minister u.s.w.
zu. Im Grund ist das ganz und' gar die nämliche Sache. Wenn alle
Gesandten am bestimmten Tage auf ihrem Posten sind, so findet man
sie vollkommen langweilig; fehlt aber einer, so wird man übellaunig,
man schmollt, man braucht Repressalien; und oft reicht das hin, um den
Weltfrieden zu stören.

So konnte vielleicht der Friede, dessen wir uns jetzt erfreuen, ge¬
stört werden^ weil der Kaiser von Rußland willentlich vergessen hat, dem
König der Franzosen für den 1. Januar 1842 seine Visitenkarte zu
schicken, ebenso wie der König der Franzosen willentlich vergessen hatte,
dem Kaiser von Rußland die seine am Se. Nikolaus-Tage zu schicken.

Der Friede, dessen wir uns erfreuen, ist zwar nicht ganz
der Univerfnlfriede, wie ihn jener treffliche Abb6 Se. Pierre geträumt


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[0119] ladungm zu Diner's, zu Bällen, zu Soiröe's, wird man belehrt, daß man sich nicht ungestraft den Verpflichtungen entzieht, die der Gebrauch uns auflegt. „Es ist sonderbar," sagt ein Wer Beamter, der Karten zu Tausenden empfängt, "ich habe die Karte des Herrn N.N. nicht ge¬ sehen, und doch, wenn er mich braucht, weiß er mich recht gut zu fin¬ den." Man kann sich darauf verlassen, daß die. Vergeßlichkeit wohl »et not-un genommen worden ist; der sie begangen l)at, wird es früher oder später schon gewahr werden. "Herr N. N. muß verreist sein," sagt eine Dame, "wir haben keine Karte von ihm erhalten." Diesem Herrn N. N. ist man vielleicht erst gestern begegnet und doch ist er jetzt officiell als verreist, erklärt, und bis auf weiteren Befehl ist sein Name von allen Einladungslisten gestrichen. Wir wissen wirklich nicht, wie man diese Entdeckungen macht, aber man macht sie;' und plötzliche Er¬ kältungen, die man sich nicht erklären kann, Abbrechungen von Verhält¬ nissen aus unbekannt bleibenden Beweggründen, kleine administrative Un¬ gnaden ohne offenbare Ursachen — alles dies, was sich jedes Jahr wie¬ derholt, hat keinen andren Ursprung, als eine kleine Vergeßlichkeit, die man sich in Uebersendung oder Abgabe von Visitenkarten hat zu Schul¬ den kommen lassen. Wenn das nun in unseren Gesellschaftskreisen so ist, so müssen, bei gleichbleibenden Verhältnissen, in höheren Regionen dieselben Ursachen entsprechende Wirkungen hervorbringen. Zwischen einem König und dein andern, einem Herrscher und dem andern ist der Gebrauch der Visiten¬ karten noch nicht eingeführt; anstatt eines gestochenen, bedruckten oder ki-- thographirten, viereckigen Stückes Pappe schicken die Könige einander or¬ dentliche oder außerordentliche Gesandte, bevollmächtigte Minister u.s.w. zu. Im Grund ist das ganz und' gar die nämliche Sache. Wenn alle Gesandten am bestimmten Tage auf ihrem Posten sind, so findet man sie vollkommen langweilig; fehlt aber einer, so wird man übellaunig, man schmollt, man braucht Repressalien; und oft reicht das hin, um den Weltfrieden zu stören. So konnte vielleicht der Friede, dessen wir uns jetzt erfreuen, ge¬ stört werden^ weil der Kaiser von Rußland willentlich vergessen hat, dem König der Franzosen für den 1. Januar 1842 seine Visitenkarte zu schicken, ebenso wie der König der Franzosen willentlich vergessen hatte, dem Kaiser von Rußland die seine am Se. Nikolaus-Tage zu schicken. Der Friede, dessen wir uns erfreuen, ist zwar nicht ganz der Univerfnlfriede, wie ihn jener treffliche Abb6 Se. Pierre geträumt 18"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/119>, abgerufen am 23.07.2024.