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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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gehoben werden. Offenbar ist man in Wien noch unentschieden über die
Art und Weise, wie man dem böhmischen Slavismus begegnen soll.
Einerseits liegt es nicht in der Tendenz des Wiener Hofes, die
sprachlichen und nationalen Eigenthümlichkeiten der verschiedenen
östreichischen Staatsvölker, so lange sie dem Geiste der Centralregie-
rung nicht hemmend in den Weg treten, zu stören; vielmehr braucht
sie dieselben oft als eine Stütze ihrer Macht; dieselbe slavische
Sprache, welche ihm in Böhmen Besorgnisse einflößt, wird in Un¬
garn gegen die Uebergriffe der Magyaren von ihm beschützt. An¬
drerseits fehlt es nicht an warnenden Stimmen, welche in der Na¬
tionalbewegung der böhmischen Slaven eine gefährliche Umwälzung,
deren Zweige bis nach Rußland hin sich erstrecken, erblicken wollen.
Diese Gefahren würde eine zeitweilige Verlegung des kaiserlichen
Hofes nach Prag allerdings aufheben. Wir Wiener würden hier¬
zu allerdings gar sauere Gesichter machen. Wohl lebt in Böh¬
men ein bei Weitem lebendigeres historisches Bewußtsein als in Oest¬
reich, dem Erzherzogtum. Und dieses historische Bewußtsein ist es,
was der jungen böhmischen Literatur ihre ganze Anregung gibt.
Die Zeiten, wo Böhmen glänzend und groß, wo Prag ein prächti¬
ger Kaisersitz war, sind die Lieblingserinnerungen der böhmischen
Jugend. Alle diese Erinnerungen aber stehen zu Rußland in keiner
Verbindung. Die Regierungsmarimen Rußlands sind wahrlich nicht
so anziehend, um ihm die Sympathien solcher Völker zu erwerben
deren Geschichte die glorreichsten Kämpfe für ihre Freiheit aufzuwei¬
sen hat. Man erhebe Prag wieder zum Kaisersitze, man umgebe
Böhmen mit dem Glänze, den es vor den Zeiten Mathias' hatte,
und der neuerwachte Sinn für seine Nationalität wird nur eine
neue Stütze für den östreichischen Thron sein. Ich muß Sie in die¬
ser Beziehung auf die Schrift des Grafen Leo von Thun verweisen.
"Man behauptet" -- heißt es in dessen so eben erschienener Schrift,
"über den gegenwärtigen Zustand der böhmischen Literatur und ihre
Bedeutung" s> -- " das Ziel der slavischen Sympathien: eine
die bestehenden Verhältnisse Europas zerstörende, slavische Univer¬
salmonarchie soll die nothwendige Folge der gemeinschaftlichen Be¬
strebungen der slavischen Volker sein. Diese Behauptung wird von



*) Prag. Kronücvger und Riwnac. 1842.

gehoben werden. Offenbar ist man in Wien noch unentschieden über die
Art und Weise, wie man dem böhmischen Slavismus begegnen soll.
Einerseits liegt es nicht in der Tendenz des Wiener Hofes, die
sprachlichen und nationalen Eigenthümlichkeiten der verschiedenen
östreichischen Staatsvölker, so lange sie dem Geiste der Centralregie-
rung nicht hemmend in den Weg treten, zu stören; vielmehr braucht
sie dieselben oft als eine Stütze ihrer Macht; dieselbe slavische
Sprache, welche ihm in Böhmen Besorgnisse einflößt, wird in Un¬
garn gegen die Uebergriffe der Magyaren von ihm beschützt. An¬
drerseits fehlt es nicht an warnenden Stimmen, welche in der Na¬
tionalbewegung der böhmischen Slaven eine gefährliche Umwälzung,
deren Zweige bis nach Rußland hin sich erstrecken, erblicken wollen.
Diese Gefahren würde eine zeitweilige Verlegung des kaiserlichen
Hofes nach Prag allerdings aufheben. Wir Wiener würden hier¬
zu allerdings gar sauere Gesichter machen. Wohl lebt in Böh¬
men ein bei Weitem lebendigeres historisches Bewußtsein als in Oest¬
reich, dem Erzherzogtum. Und dieses historische Bewußtsein ist es,
was der jungen böhmischen Literatur ihre ganze Anregung gibt.
Die Zeiten, wo Böhmen glänzend und groß, wo Prag ein prächti¬
ger Kaisersitz war, sind die Lieblingserinnerungen der böhmischen
Jugend. Alle diese Erinnerungen aber stehen zu Rußland in keiner
Verbindung. Die Regierungsmarimen Rußlands sind wahrlich nicht
so anziehend, um ihm die Sympathien solcher Völker zu erwerben
deren Geschichte die glorreichsten Kämpfe für ihre Freiheit aufzuwei¬
sen hat. Man erhebe Prag wieder zum Kaisersitze, man umgebe
Böhmen mit dem Glänze, den es vor den Zeiten Mathias' hatte,
und der neuerwachte Sinn für seine Nationalität wird nur eine
neue Stütze für den östreichischen Thron sein. Ich muß Sie in die¬
ser Beziehung auf die Schrift des Grafen Leo von Thun verweisen.
„Man behauptet" — heißt es in dessen so eben erschienener Schrift,
„über den gegenwärtigen Zustand der böhmischen Literatur und ihre
Bedeutung" s> — „ das Ziel der slavischen Sympathien: eine
die bestehenden Verhältnisse Europas zerstörende, slavische Univer¬
salmonarchie soll die nothwendige Folge der gemeinschaftlichen Be¬
strebungen der slavischen Volker sein. Diese Behauptung wird von



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[0083] gehoben werden. Offenbar ist man in Wien noch unentschieden über die Art und Weise, wie man dem böhmischen Slavismus begegnen soll. Einerseits liegt es nicht in der Tendenz des Wiener Hofes, die sprachlichen und nationalen Eigenthümlichkeiten der verschiedenen östreichischen Staatsvölker, so lange sie dem Geiste der Centralregie- rung nicht hemmend in den Weg treten, zu stören; vielmehr braucht sie dieselben oft als eine Stütze ihrer Macht; dieselbe slavische Sprache, welche ihm in Böhmen Besorgnisse einflößt, wird in Un¬ garn gegen die Uebergriffe der Magyaren von ihm beschützt. An¬ drerseits fehlt es nicht an warnenden Stimmen, welche in der Na¬ tionalbewegung der böhmischen Slaven eine gefährliche Umwälzung, deren Zweige bis nach Rußland hin sich erstrecken, erblicken wollen. Diese Gefahren würde eine zeitweilige Verlegung des kaiserlichen Hofes nach Prag allerdings aufheben. Wir Wiener würden hier¬ zu allerdings gar sauere Gesichter machen. Wohl lebt in Böh¬ men ein bei Weitem lebendigeres historisches Bewußtsein als in Oest¬ reich, dem Erzherzogtum. Und dieses historische Bewußtsein ist es, was der jungen böhmischen Literatur ihre ganze Anregung gibt. Die Zeiten, wo Böhmen glänzend und groß, wo Prag ein prächti¬ ger Kaisersitz war, sind die Lieblingserinnerungen der böhmischen Jugend. Alle diese Erinnerungen aber stehen zu Rußland in keiner Verbindung. Die Regierungsmarimen Rußlands sind wahrlich nicht so anziehend, um ihm die Sympathien solcher Völker zu erwerben deren Geschichte die glorreichsten Kämpfe für ihre Freiheit aufzuwei¬ sen hat. Man erhebe Prag wieder zum Kaisersitze, man umgebe Böhmen mit dem Glänze, den es vor den Zeiten Mathias' hatte, und der neuerwachte Sinn für seine Nationalität wird nur eine neue Stütze für den östreichischen Thron sein. Ich muß Sie in die¬ ser Beziehung auf die Schrift des Grafen Leo von Thun verweisen. „Man behauptet" — heißt es in dessen so eben erschienener Schrift, „über den gegenwärtigen Zustand der böhmischen Literatur und ihre Bedeutung" s> — „ das Ziel der slavischen Sympathien: eine die bestehenden Verhältnisse Europas zerstörende, slavische Univer¬ salmonarchie soll die nothwendige Folge der gemeinschaftlichen Be¬ strebungen der slavischen Volker sein. Diese Behauptung wird von *) Prag. Kronücvger und Riwnac. 1842.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/83>, abgerufen am 23.07.2024.