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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Trieft, Trieft nicht für Mailand u. s. w. Auch muß ich Ihnen
bekennen, ich habe nie geglaubt, daß die Centralisanon in Frankreich
so sehr stark ist, als unsere deutschen Neiseschriftsteller uns glauben machen
wollen. Es geht dem deutschen Reisenden in Frankreich nicht besser, als
dem französischen Reisenden in Deutschland. Die fremde Nationalität,
auf die er stößt, frappirt ihn, er sieht nur das Ganze; die einzelnen
Nuancen zu begreifen, dazu gehört eine tiefere Vertrautheit mit der
Nation. Unter fünfhundert Reisenden, die Paris besuchen, macht
höchstens Einer einen Ausflug nach Lyon, nach Clermont, nach Mar¬
seille und dieser Eine, wenn er nicht in Geschäften reist, eilt durch
das schöne Land, um nur die Städte zu sehen. Da trifft er denn
freilich nur Pariser Moden, Pariser Journale und Pariser Affen.
Der Volksgeist aber mit seinen localen Sitten, Traditionen und Aus-
drucköverschiedenheitcn ist glücklicher Weise zäher, als daß der nivel-
lirende Geist der Staatsprincipien und der vorüberrauschende Strom
der Modeidcm ihn vernichten könnten, und es ist mir schwer zu glau¬
ben, daß in dieser Beziehung Frankreich centralisirter sein soll, als
England und Deutschland. Der oberflächliche Tourist findet in Prag
wie in Pesth Wiener Speisen, Wiener Theaterstücke und Wiener
Tanzmusik, und doch sind beide Städte weit entfernt, die Affen der
Residenz zu sein. Besonders Prag, wo noch die Erinnerungen an
die Zeiten leben, da es selbst der Sitz der östreichischen und
deutschen Kaiser gewesen ist. Prag, das in seinem historischen
Stolz auf Wien wie ein alter Edelmann auf einen Parvenü
herabsieht. Das gemeine Volk in Böhmen trägt sich noch im¬
mer mit der Sage, der Kaiser werde seinen Hof wieder nach
Prag verlegen, und^ selbst in den Vürgerklassen hört man die
Aeußerung, die alte ungestalte Hofburg in Wien werde nächstens
umbaut werden und der Kaiser werde nächstens sein prächtiges
Schloß in Prag beziehen und zwei, drei Jahre hier verweilen. In
der That ist das Eintreten eines solchen Ereignisses nicht außer dem
Bereiche der Möglichkeit. Ja, es kann sogar der Fall eintreten,
daß die politsche Klugheit dazu räth. Nicht um die alte Hofburg in
Wien umbauen zu lassen, sondern um dem Geist der böhmischen Anhäng¬
lichkeit neue Stützmauern und einen frischen Anbau zu geben. Die
Verlegenheiten, in welche die östreichische Negierung durch den so
lebhaft erwachenden CzechiömuS in Böhmen geräth, würden dadurch


Trieft, Trieft nicht für Mailand u. s. w. Auch muß ich Ihnen
bekennen, ich habe nie geglaubt, daß die Centralisanon in Frankreich
so sehr stark ist, als unsere deutschen Neiseschriftsteller uns glauben machen
wollen. Es geht dem deutschen Reisenden in Frankreich nicht besser, als
dem französischen Reisenden in Deutschland. Die fremde Nationalität,
auf die er stößt, frappirt ihn, er sieht nur das Ganze; die einzelnen
Nuancen zu begreifen, dazu gehört eine tiefere Vertrautheit mit der
Nation. Unter fünfhundert Reisenden, die Paris besuchen, macht
höchstens Einer einen Ausflug nach Lyon, nach Clermont, nach Mar¬
seille und dieser Eine, wenn er nicht in Geschäften reist, eilt durch
das schöne Land, um nur die Städte zu sehen. Da trifft er denn
freilich nur Pariser Moden, Pariser Journale und Pariser Affen.
Der Volksgeist aber mit seinen localen Sitten, Traditionen und Aus-
drucköverschiedenheitcn ist glücklicher Weise zäher, als daß der nivel-
lirende Geist der Staatsprincipien und der vorüberrauschende Strom
der Modeidcm ihn vernichten könnten, und es ist mir schwer zu glau¬
ben, daß in dieser Beziehung Frankreich centralisirter sein soll, als
England und Deutschland. Der oberflächliche Tourist findet in Prag
wie in Pesth Wiener Speisen, Wiener Theaterstücke und Wiener
Tanzmusik, und doch sind beide Städte weit entfernt, die Affen der
Residenz zu sein. Besonders Prag, wo noch die Erinnerungen an
die Zeiten leben, da es selbst der Sitz der östreichischen und
deutschen Kaiser gewesen ist. Prag, das in seinem historischen
Stolz auf Wien wie ein alter Edelmann auf einen Parvenü
herabsieht. Das gemeine Volk in Böhmen trägt sich noch im¬
mer mit der Sage, der Kaiser werde seinen Hof wieder nach
Prag verlegen, und^ selbst in den Vürgerklassen hört man die
Aeußerung, die alte ungestalte Hofburg in Wien werde nächstens
umbaut werden und der Kaiser werde nächstens sein prächtiges
Schloß in Prag beziehen und zwei, drei Jahre hier verweilen. In
der That ist das Eintreten eines solchen Ereignisses nicht außer dem
Bereiche der Möglichkeit. Ja, es kann sogar der Fall eintreten,
daß die politsche Klugheit dazu räth. Nicht um die alte Hofburg in
Wien umbauen zu lassen, sondern um dem Geist der böhmischen Anhäng¬
lichkeit neue Stützmauern und einen frischen Anbau zu geben. Die
Verlegenheiten, in welche die östreichische Negierung durch den so
lebhaft erwachenden CzechiömuS in Böhmen geräth, würden dadurch


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[0082] Trieft, Trieft nicht für Mailand u. s. w. Auch muß ich Ihnen bekennen, ich habe nie geglaubt, daß die Centralisanon in Frankreich so sehr stark ist, als unsere deutschen Neiseschriftsteller uns glauben machen wollen. Es geht dem deutschen Reisenden in Frankreich nicht besser, als dem französischen Reisenden in Deutschland. Die fremde Nationalität, auf die er stößt, frappirt ihn, er sieht nur das Ganze; die einzelnen Nuancen zu begreifen, dazu gehört eine tiefere Vertrautheit mit der Nation. Unter fünfhundert Reisenden, die Paris besuchen, macht höchstens Einer einen Ausflug nach Lyon, nach Clermont, nach Mar¬ seille und dieser Eine, wenn er nicht in Geschäften reist, eilt durch das schöne Land, um nur die Städte zu sehen. Da trifft er denn freilich nur Pariser Moden, Pariser Journale und Pariser Affen. Der Volksgeist aber mit seinen localen Sitten, Traditionen und Aus- drucköverschiedenheitcn ist glücklicher Weise zäher, als daß der nivel- lirende Geist der Staatsprincipien und der vorüberrauschende Strom der Modeidcm ihn vernichten könnten, und es ist mir schwer zu glau¬ ben, daß in dieser Beziehung Frankreich centralisirter sein soll, als England und Deutschland. Der oberflächliche Tourist findet in Prag wie in Pesth Wiener Speisen, Wiener Theaterstücke und Wiener Tanzmusik, und doch sind beide Städte weit entfernt, die Affen der Residenz zu sein. Besonders Prag, wo noch die Erinnerungen an die Zeiten leben, da es selbst der Sitz der östreichischen und deutschen Kaiser gewesen ist. Prag, das in seinem historischen Stolz auf Wien wie ein alter Edelmann auf einen Parvenü herabsieht. Das gemeine Volk in Böhmen trägt sich noch im¬ mer mit der Sage, der Kaiser werde seinen Hof wieder nach Prag verlegen, und^ selbst in den Vürgerklassen hört man die Aeußerung, die alte ungestalte Hofburg in Wien werde nächstens umbaut werden und der Kaiser werde nächstens sein prächtiges Schloß in Prag beziehen und zwei, drei Jahre hier verweilen. In der That ist das Eintreten eines solchen Ereignisses nicht außer dem Bereiche der Möglichkeit. Ja, es kann sogar der Fall eintreten, daß die politsche Klugheit dazu räth. Nicht um die alte Hofburg in Wien umbauen zu lassen, sondern um dem Geist der böhmischen Anhäng¬ lichkeit neue Stützmauern und einen frischen Anbau zu geben. Die Verlegenheiten, in welche die östreichische Negierung durch den so lebhaft erwachenden CzechiömuS in Böhmen geräth, würden dadurch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/82>, abgerufen am 23.07.2024.