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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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einer solchen Freiheit für eine Miene machen? Ja, wir zweifeln
selbst, daß Paris und Brüssel ein solches Maß von Unabhängigkeit
auf jeder Seite des Forschens ertragen könnten, und es ist dies kein
Vorwurf für sie; eS wäre unter den jetzigen Verhältnissen ungereimt,
ihnen dergleichen zuzumuthen.

Ein gänzliches Freigeben des Unterrichts in die Hand der
Privatpersonen und Vereine mag auf den ersten Blick denen, welche
an die deutschen Zustände gewöhnt sind, unzuläßlich vorkommen.
Wie sollte ein geordnetes Volksleben bestehen, wenn nicht das Volk
durch eiir vollständig organisirtes und überwachtes Schulwesen dazu
herangebildet wird? Giebt der Staat nicht mit der Sorge dafür
eine seiner heiligsten Pflichten auf, um die sittliche und politische
Erziehung wenigstens des größten Theiles der Landesbewohner dem
Zufall, dem Eigennutz, dem guten oder bösen Willen der Klügern
oder Glücklichern zu überlassen? Dem Lehrenden gar keine Garantie
seiner Tüchtigkeit abfordern, den Schulen keine Bedingungen vor¬
schreiben hieße, wie es scheint, einerseits das Lehrfach in die Reihe
solcher Gewerbe stellen, die mit den Stoffen der Natur, mit Erzeng¬
nissen der Mechanik zu thun haben, andrerseits aber hieße es, den
Staat für intellektuell bankerott erklären. Würde man nicht der
Anarchie Thür und Thor öffnen, oder doch jedenfalls an die gute
Natur eines Volkes eine ungeheure Zumuthung machen, indem man
ihm ein so bedenkliches Geschenk zum beliebigen Gebrauch gäbe?
In der That sehen wir auch die Unterrichtsfreiheit höchst selten
um ihrer selbst willen gefordert; man verfolgt mit ihr und unter dem
Deckmantel derselben gemeiniglich ganz andere, mit dieser Freiheit
selbst streitende Zwecke, wie wir es grade jetzt in Frankreich wahr¬
genommen haben. Es liegt unserer Absicht sern, der absoluten Los-
gcbung des Unterrichts an und für sich das Wort zu reden. Es ist
sicherlich kein normaler Zustand, wenn der Unterricht ohne Erweis
der Fähigkeit und Gesinnung Derer, die sich demselben widmen, der
Concurrenz der Menge überlassen wird; wohl aber kann dieser Zu¬
stand, wie dies in Belgien der Fall ist, der Ausgangspunkt einer
gesunderen Gestaltung des Unterrichtswesens und die freie Concurrenz
eine bleibende Grundlage natürlicher Entwicklung sein; jedenfalls
ist diese in Belgien die erste und unabweisliche Bedingung einer
volksgemäßen Organisirung desselben gewesen.


einer solchen Freiheit für eine Miene machen? Ja, wir zweifeln
selbst, daß Paris und Brüssel ein solches Maß von Unabhängigkeit
auf jeder Seite des Forschens ertragen könnten, und es ist dies kein
Vorwurf für sie; eS wäre unter den jetzigen Verhältnissen ungereimt,
ihnen dergleichen zuzumuthen.

Ein gänzliches Freigeben des Unterrichts in die Hand der
Privatpersonen und Vereine mag auf den ersten Blick denen, welche
an die deutschen Zustände gewöhnt sind, unzuläßlich vorkommen.
Wie sollte ein geordnetes Volksleben bestehen, wenn nicht das Volk
durch eiir vollständig organisirtes und überwachtes Schulwesen dazu
herangebildet wird? Giebt der Staat nicht mit der Sorge dafür
eine seiner heiligsten Pflichten auf, um die sittliche und politische
Erziehung wenigstens des größten Theiles der Landesbewohner dem
Zufall, dem Eigennutz, dem guten oder bösen Willen der Klügern
oder Glücklichern zu überlassen? Dem Lehrenden gar keine Garantie
seiner Tüchtigkeit abfordern, den Schulen keine Bedingungen vor¬
schreiben hieße, wie es scheint, einerseits das Lehrfach in die Reihe
solcher Gewerbe stellen, die mit den Stoffen der Natur, mit Erzeng¬
nissen der Mechanik zu thun haben, andrerseits aber hieße es, den
Staat für intellektuell bankerott erklären. Würde man nicht der
Anarchie Thür und Thor öffnen, oder doch jedenfalls an die gute
Natur eines Volkes eine ungeheure Zumuthung machen, indem man
ihm ein so bedenkliches Geschenk zum beliebigen Gebrauch gäbe?
In der That sehen wir auch die Unterrichtsfreiheit höchst selten
um ihrer selbst willen gefordert; man verfolgt mit ihr und unter dem
Deckmantel derselben gemeiniglich ganz andere, mit dieser Freiheit
selbst streitende Zwecke, wie wir es grade jetzt in Frankreich wahr¬
genommen haben. Es liegt unserer Absicht sern, der absoluten Los-
gcbung des Unterrichts an und für sich das Wort zu reden. Es ist
sicherlich kein normaler Zustand, wenn der Unterricht ohne Erweis
der Fähigkeit und Gesinnung Derer, die sich demselben widmen, der
Concurrenz der Menge überlassen wird; wohl aber kann dieser Zu¬
stand, wie dies in Belgien der Fall ist, der Ausgangspunkt einer
gesunderen Gestaltung des Unterrichtswesens und die freie Concurrenz
eine bleibende Grundlage natürlicher Entwicklung sein; jedenfalls
ist diese in Belgien die erste und unabweisliche Bedingung einer
volksgemäßen Organisirung desselben gewesen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/71>, abgerufen am 23.07.2024.