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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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ein" der gewaltigsten tragischen Schauspielerinnen ist, ti" noch jetzt
dnrch die Wahrheit ihres Ausdrucks die eingetretenen Mängel ihrer
Stimme vergessen macht, so ist es fast unbegreiflich, wie diese froh--
liebe Natur sich durch alle diese Studien und Leidenschaften wach er¬
halten hat. Wer würde es glauben, daß diese rührende Norma, diese
stolze Semiramide so liebenswürdige Tollheiten begehen, daß die
Königin von Babylon in eine Colombine sich verwandeln kann?

Mittlerweile war es Mittag geworden.

Und die Sonne versendet glühenden Brand
Und, von der unendlichen Mühe
Ermattet, sinken die Kniee.

ES war Zeit auf den Rückzug zu denken; aber dieser Gedanke
hatte wenig Erfreuliches, wenn man die Mühseligkeit des Weges so
erprobt hatte, wie wir. Madame Pasta sah uns alle nach der
Reihe an und lächelte bedeutungsvoll: "Meine Freunde scheinen
nicht zu wissen," sagte sie, "daß wir hier auf diesen Bergen Ma¬
schinen besitzen, wodurch wir die Reisenden auf die allerbequemste
Art in's Thal hinab praktiziren?" -- "Maschinen?" -- riefen wir
alle erstaunt. "Ja," sagte sie, "folgen Sie mir und Sie sollen be¬
wundern, wie tiefsinnig und erfindungsreich der menschliche Geist ist."

Wir verließen den Klosterhof, um ihr zu folgen, und erblickten
in der That eine eigenthümliche Maschinerie, die dazu dienen sollte,
uns auf die komischste und behaglichste Weise die Berge hinabkollern
zu lassen. Zwölf bis vierzehn riesige Baumzweige, deren kleinere
Aeste, mit grünen Blättern reich bewachsen, zu einem bequemen Sitze
zusammengeflochten waren, lagen vor uns. Der mittlere Ast dersel¬
ben bildete eine Art Deichsel, zu dessen Führung ein breitfüßiger lom-
bardischer Bauer bereit stand. Jeder der Reisenden hatte somit seine
eigene Equipage mit einem Menschen vorgespannt. Die ganze Ge¬
sellschaft brach bei diesem Anblick in ein lautes Gelächter aus und
unter fröhlichem Jubel rutschten wir Tlicck abwärts, bis wir wohl
gerüttelt am Ufer des Sees anlangten. Eine Stunde später stiegen
wir die granitene Treppe der Villa-Pasta hinauf; einige Augenblicke
Ruhe, ein Seebad, ein treffliches Diner gaben uns bald unsere Kräfte
wieder; und eine Gondelfahrt beschloß den Abend dieses mühevollen Tages.

Wenn sich Madame Pasta am ersten Tage, wo ich sie kennen
lernte, mit allem Glanz" deö liebenswürdigen Weibes, mit jenem beste-


ein« der gewaltigsten tragischen Schauspielerinnen ist, ti« noch jetzt
dnrch die Wahrheit ihres Ausdrucks die eingetretenen Mängel ihrer
Stimme vergessen macht, so ist es fast unbegreiflich, wie diese froh--
liebe Natur sich durch alle diese Studien und Leidenschaften wach er¬
halten hat. Wer würde es glauben, daß diese rührende Norma, diese
stolze Semiramide so liebenswürdige Tollheiten begehen, daß die
Königin von Babylon in eine Colombine sich verwandeln kann?

Mittlerweile war es Mittag geworden.

Und die Sonne versendet glühenden Brand
Und, von der unendlichen Mühe
Ermattet, sinken die Kniee.

ES war Zeit auf den Rückzug zu denken; aber dieser Gedanke
hatte wenig Erfreuliches, wenn man die Mühseligkeit des Weges so
erprobt hatte, wie wir. Madame Pasta sah uns alle nach der
Reihe an und lächelte bedeutungsvoll: „Meine Freunde scheinen
nicht zu wissen," sagte sie, „daß wir hier auf diesen Bergen Ma¬
schinen besitzen, wodurch wir die Reisenden auf die allerbequemste
Art in's Thal hinab praktiziren?" — „Maschinen?" — riefen wir
alle erstaunt. „Ja," sagte sie, „folgen Sie mir und Sie sollen be¬
wundern, wie tiefsinnig und erfindungsreich der menschliche Geist ist."

Wir verließen den Klosterhof, um ihr zu folgen, und erblickten
in der That eine eigenthümliche Maschinerie, die dazu dienen sollte,
uns auf die komischste und behaglichste Weise die Berge hinabkollern
zu lassen. Zwölf bis vierzehn riesige Baumzweige, deren kleinere
Aeste, mit grünen Blättern reich bewachsen, zu einem bequemen Sitze
zusammengeflochten waren, lagen vor uns. Der mittlere Ast dersel¬
ben bildete eine Art Deichsel, zu dessen Führung ein breitfüßiger lom-
bardischer Bauer bereit stand. Jeder der Reisenden hatte somit seine
eigene Equipage mit einem Menschen vorgespannt. Die ganze Ge¬
sellschaft brach bei diesem Anblick in ein lautes Gelächter aus und
unter fröhlichem Jubel rutschten wir Tlicck abwärts, bis wir wohl
gerüttelt am Ufer des Sees anlangten. Eine Stunde später stiegen
wir die granitene Treppe der Villa-Pasta hinauf; einige Augenblicke
Ruhe, ein Seebad, ein treffliches Diner gaben uns bald unsere Kräfte
wieder; und eine Gondelfahrt beschloß den Abend dieses mühevollen Tages.

Wenn sich Madame Pasta am ersten Tage, wo ich sie kennen
lernte, mit allem Glanz« deö liebenswürdigen Weibes, mit jenem beste-


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[0063] ein« der gewaltigsten tragischen Schauspielerinnen ist, ti« noch jetzt dnrch die Wahrheit ihres Ausdrucks die eingetretenen Mängel ihrer Stimme vergessen macht, so ist es fast unbegreiflich, wie diese froh-- liebe Natur sich durch alle diese Studien und Leidenschaften wach er¬ halten hat. Wer würde es glauben, daß diese rührende Norma, diese stolze Semiramide so liebenswürdige Tollheiten begehen, daß die Königin von Babylon in eine Colombine sich verwandeln kann? Mittlerweile war es Mittag geworden. Und die Sonne versendet glühenden Brand Und, von der unendlichen Mühe Ermattet, sinken die Kniee. ES war Zeit auf den Rückzug zu denken; aber dieser Gedanke hatte wenig Erfreuliches, wenn man die Mühseligkeit des Weges so erprobt hatte, wie wir. Madame Pasta sah uns alle nach der Reihe an und lächelte bedeutungsvoll: „Meine Freunde scheinen nicht zu wissen," sagte sie, „daß wir hier auf diesen Bergen Ma¬ schinen besitzen, wodurch wir die Reisenden auf die allerbequemste Art in's Thal hinab praktiziren?" — „Maschinen?" — riefen wir alle erstaunt. „Ja," sagte sie, „folgen Sie mir und Sie sollen be¬ wundern, wie tiefsinnig und erfindungsreich der menschliche Geist ist." Wir verließen den Klosterhof, um ihr zu folgen, und erblickten in der That eine eigenthümliche Maschinerie, die dazu dienen sollte, uns auf die komischste und behaglichste Weise die Berge hinabkollern zu lassen. Zwölf bis vierzehn riesige Baumzweige, deren kleinere Aeste, mit grünen Blättern reich bewachsen, zu einem bequemen Sitze zusammengeflochten waren, lagen vor uns. Der mittlere Ast dersel¬ ben bildete eine Art Deichsel, zu dessen Führung ein breitfüßiger lom- bardischer Bauer bereit stand. Jeder der Reisenden hatte somit seine eigene Equipage mit einem Menschen vorgespannt. Die ganze Ge¬ sellschaft brach bei diesem Anblick in ein lautes Gelächter aus und unter fröhlichem Jubel rutschten wir Tlicck abwärts, bis wir wohl gerüttelt am Ufer des Sees anlangten. Eine Stunde später stiegen wir die granitene Treppe der Villa-Pasta hinauf; einige Augenblicke Ruhe, ein Seebad, ein treffliches Diner gaben uns bald unsere Kräfte wieder; und eine Gondelfahrt beschloß den Abend dieses mühevollen Tages. Wenn sich Madame Pasta am ersten Tage, wo ich sie kennen lernte, mit allem Glanz« deö liebenswürdigen Weibes, mit jenem beste-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/63>, abgerufen am 23.07.2024.