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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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zu ertragen, bis seine Schmerzenslast von Neuem seinen wunden
Schultern zu schwer wird und er sie abwirft und neue Katastrophen
dadurch herbeiführt.

In dieser traurigen Alternative, in diesen gegenseitigen Ueber¬
griffen, in diesem Wechsel von Sieg und Niederlage bewegen sich
heut zu Tage die Industrie und die arbeitenden Classen. Der fort¬
dauernden Feindschaft nun dieser Hauptbestandtheile des öffentlichen
Reichthums ein friedliches Medium entgegenzustellen, in dem sie
einander begegnen können, ohne an einander anzustoßen, in dem sie
gegenseitige Dienste sich leisten, ohne daß einer dem andern geopfert
wird, das ist es, um was eS sich handelt. Mit einem Worte, eS
kommt darauf an, das Gesetz für die Organisation der Arbeit zir
entdecken; denn dieses Gesetz ist der geheimnißvolle Logos unsrer
Epoche, der Fleisch werden soll. An Anstrengungen für diese neue
Aufgabe hat es wenigstens in Frankreich, England und Belgien, die
freilich die bedeutendsten industriellen Staaten sind, -- nicht gefehlt;
die Lehrstühle der Hochschulen haben sich ihrer bemächtigt, die Aka¬
demienhaben für die Lösung derselben ihre schönsten goldenen Medail¬
len schlagen lassen und die Publicisten, die sich damit beschäftigt, ha¬
ben sich ihre Anläufe von der öffentlichen Meinung hoch anschlagen
lassen. Was ist aber aus diesen Beschäftigungen so Bieter mit ei¬
nem Gegenstande für ein Resultat erwachsen? Ist auf die Analyse
der gegenwärtigen Lage eine neue Synthesis gefolgt? Leider müssen
wir mit Nein antworten. Mit Ausnahme einiger geistreichen Mo¬
nographien, die aber unter einander in keinem Zusammenhange
stehen, ist das Problem in seiner früheren Dunkelheit und unaufge¬
löst geblieben. Noch hat man nichts Besseres zu finden vermocht,
als die Principien, die Fourrier und Owen aufgestellt, d. h. das
Gehässige und das Unmögliche.

Es war aber indeß an einigen Orten das Uebel so gewaltig
geworden, daß man nicht länger warten konnte, sondern von der
Discussio" zu thatsächlichen Mitteln, von den Theorien zu ihren
Proben überzugehen sich genöthigt sah. Eine solche Nothwendigkeit
ist in England eingetreten. Dieses Land war aus den Höhepunkt
seiner industriellen Macht gelangt; es sah zu gleicher Zeit die An¬
zahl seiner Bevölkerung immer größer, die seiner Consumenten aber
immer geringer werden, weil fremde Concurrenz ihr die Märkte


zu ertragen, bis seine Schmerzenslast von Neuem seinen wunden
Schultern zu schwer wird und er sie abwirft und neue Katastrophen
dadurch herbeiführt.

In dieser traurigen Alternative, in diesen gegenseitigen Ueber¬
griffen, in diesem Wechsel von Sieg und Niederlage bewegen sich
heut zu Tage die Industrie und die arbeitenden Classen. Der fort¬
dauernden Feindschaft nun dieser Hauptbestandtheile des öffentlichen
Reichthums ein friedliches Medium entgegenzustellen, in dem sie
einander begegnen können, ohne an einander anzustoßen, in dem sie
gegenseitige Dienste sich leisten, ohne daß einer dem andern geopfert
wird, das ist es, um was eS sich handelt. Mit einem Worte, eS
kommt darauf an, das Gesetz für die Organisation der Arbeit zir
entdecken; denn dieses Gesetz ist der geheimnißvolle Logos unsrer
Epoche, der Fleisch werden soll. An Anstrengungen für diese neue
Aufgabe hat es wenigstens in Frankreich, England und Belgien, die
freilich die bedeutendsten industriellen Staaten sind, — nicht gefehlt;
die Lehrstühle der Hochschulen haben sich ihrer bemächtigt, die Aka¬
demienhaben für die Lösung derselben ihre schönsten goldenen Medail¬
len schlagen lassen und die Publicisten, die sich damit beschäftigt, ha¬
ben sich ihre Anläufe von der öffentlichen Meinung hoch anschlagen
lassen. Was ist aber aus diesen Beschäftigungen so Bieter mit ei¬
nem Gegenstande für ein Resultat erwachsen? Ist auf die Analyse
der gegenwärtigen Lage eine neue Synthesis gefolgt? Leider müssen
wir mit Nein antworten. Mit Ausnahme einiger geistreichen Mo¬
nographien, die aber unter einander in keinem Zusammenhange
stehen, ist das Problem in seiner früheren Dunkelheit und unaufge¬
löst geblieben. Noch hat man nichts Besseres zu finden vermocht,
als die Principien, die Fourrier und Owen aufgestellt, d. h. das
Gehässige und das Unmögliche.

Es war aber indeß an einigen Orten das Uebel so gewaltig
geworden, daß man nicht länger warten konnte, sondern von der
Discussio« zu thatsächlichen Mitteln, von den Theorien zu ihren
Proben überzugehen sich genöthigt sah. Eine solche Nothwendigkeit
ist in England eingetreten. Dieses Land war aus den Höhepunkt
seiner industriellen Macht gelangt; es sah zu gleicher Zeit die An¬
zahl seiner Bevölkerung immer größer, die seiner Consumenten aber
immer geringer werden, weil fremde Concurrenz ihr die Märkte


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[0572] zu ertragen, bis seine Schmerzenslast von Neuem seinen wunden Schultern zu schwer wird und er sie abwirft und neue Katastrophen dadurch herbeiführt. In dieser traurigen Alternative, in diesen gegenseitigen Ueber¬ griffen, in diesem Wechsel von Sieg und Niederlage bewegen sich heut zu Tage die Industrie und die arbeitenden Classen. Der fort¬ dauernden Feindschaft nun dieser Hauptbestandtheile des öffentlichen Reichthums ein friedliches Medium entgegenzustellen, in dem sie einander begegnen können, ohne an einander anzustoßen, in dem sie gegenseitige Dienste sich leisten, ohne daß einer dem andern geopfert wird, das ist es, um was eS sich handelt. Mit einem Worte, eS kommt darauf an, das Gesetz für die Organisation der Arbeit zir entdecken; denn dieses Gesetz ist der geheimnißvolle Logos unsrer Epoche, der Fleisch werden soll. An Anstrengungen für diese neue Aufgabe hat es wenigstens in Frankreich, England und Belgien, die freilich die bedeutendsten industriellen Staaten sind, — nicht gefehlt; die Lehrstühle der Hochschulen haben sich ihrer bemächtigt, die Aka¬ demienhaben für die Lösung derselben ihre schönsten goldenen Medail¬ len schlagen lassen und die Publicisten, die sich damit beschäftigt, ha¬ ben sich ihre Anläufe von der öffentlichen Meinung hoch anschlagen lassen. Was ist aber aus diesen Beschäftigungen so Bieter mit ei¬ nem Gegenstande für ein Resultat erwachsen? Ist auf die Analyse der gegenwärtigen Lage eine neue Synthesis gefolgt? Leider müssen wir mit Nein antworten. Mit Ausnahme einiger geistreichen Mo¬ nographien, die aber unter einander in keinem Zusammenhange stehen, ist das Problem in seiner früheren Dunkelheit und unaufge¬ löst geblieben. Noch hat man nichts Besseres zu finden vermocht, als die Principien, die Fourrier und Owen aufgestellt, d. h. das Gehässige und das Unmögliche. Es war aber indeß an einigen Orten das Uebel so gewaltig geworden, daß man nicht länger warten konnte, sondern von der Discussio« zu thatsächlichen Mitteln, von den Theorien zu ihren Proben überzugehen sich genöthigt sah. Eine solche Nothwendigkeit ist in England eingetreten. Dieses Land war aus den Höhepunkt seiner industriellen Macht gelangt; es sah zu gleicher Zeit die An¬ zahl seiner Bevölkerung immer größer, die seiner Consumenten aber immer geringer werden, weil fremde Concurrenz ihr die Märkte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/572>, abgerufen am 23.07.2024.