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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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die Tiefen des Menschenherzens zu erforschen und die vorüber¬
huschenden Erscheinungen und Hirngespinnste deS Geistes festzuhal¬
ten. Die plastische Poesie hat der psychischen Platz gemacht;
aus dem Zögling Goethe's ist ein Nebenbuhler Byron'S geworden.
Der Stoff der beiden zuerst veröffentlichten Theile der "Dziady" ist
wiederum sehr einfach; es entwickelt sich in ihnen nur ein rein
innerlich spielendes Drama, das in einen phantastischen Nahmen
eingelegt ist. Die philosophischen, politischen und socialen Tenden¬
zen des Dichters hat derselbe erst später in dem dritten Theil seines
Werkes an den Tag gelegt, den er im Erile, nach den Qualen
der Wilnaer Kerkermonate und nach dem Falle seines Vaterlandes
geschrieben. Wir werden in diesem überhaupt mehr der Biographie
als der Kritik gewidmeten Artikel Nichts über diesen Theil sagen
und verweisen unsre Leser lieber auf das Beste, was darüber ge¬
schrieben worden, nämlich auf die Analyse, welche Georges Sand
in der Revue de deur Mondes davon gegeben.

Ein junger Mann, von heftigen Leidenschaften und begabt
mit glühend lebhafter Einbildungskraft, liebt ein junges, eitles,
flüchtiges Mädchen, die "eine glänzende äußere Stellung dem wah¬
ren Glücke vorzieht und ihre Hand einem andern jungen Manne
reicht, ohne ihn zu lieben. Der verrathene Liebhaber in seiner
Verzweiflung tödtet sich selbst. Dies ist die ziemlich abgenützte
Grundfabel der beiden ersten Theile der Dziady; aber der Dichter
entschädigt für diese Alltäglichkeit seines Stoffes hinlänglich durch
den Reichthum und die Originalität der Art und Weise, wie er
ihn behandelt. Das Drama beginnt erst nach dem Tode des Hel-
den, während einer im Volke gebräuchlichen religiösen Ceremonie,
deren Ursprung bis in die heidnischen Zeiten Lithauens hinauf¬
reicht. In der Nacht des Allerseelentages nämlich versammelt sich
das Volk auf den Kirchhöfen, um die Seelen der Todten aus den
Gräbern hervorzurufen. Ein Harfenspieler, der zugleich Zauberer
ist, lockt durch seine Zaubersprüche und Beschwörungen alle zwi¬
schen Himmel und Erde umherirrenden Geister an sich. Sie kom¬
men in Masse herbei, um Nahrungsmittel und Gebete zu verlangen;
bei diesem Todtenfeste nun erscheint auch der junge Mann, den die
Liebe zum Selbstmörder gemacht hat. Ein Urtheilsspruch Gottes


die Tiefen des Menschenherzens zu erforschen und die vorüber¬
huschenden Erscheinungen und Hirngespinnste deS Geistes festzuhal¬
ten. Die plastische Poesie hat der psychischen Platz gemacht;
aus dem Zögling Goethe's ist ein Nebenbuhler Byron'S geworden.
Der Stoff der beiden zuerst veröffentlichten Theile der „Dziady" ist
wiederum sehr einfach; es entwickelt sich in ihnen nur ein rein
innerlich spielendes Drama, das in einen phantastischen Nahmen
eingelegt ist. Die philosophischen, politischen und socialen Tenden¬
zen des Dichters hat derselbe erst später in dem dritten Theil seines
Werkes an den Tag gelegt, den er im Erile, nach den Qualen
der Wilnaer Kerkermonate und nach dem Falle seines Vaterlandes
geschrieben. Wir werden in diesem überhaupt mehr der Biographie
als der Kritik gewidmeten Artikel Nichts über diesen Theil sagen
und verweisen unsre Leser lieber auf das Beste, was darüber ge¬
schrieben worden, nämlich auf die Analyse, welche Georges Sand
in der Revue de deur Mondes davon gegeben.

Ein junger Mann, von heftigen Leidenschaften und begabt
mit glühend lebhafter Einbildungskraft, liebt ein junges, eitles,
flüchtiges Mädchen, die "eine glänzende äußere Stellung dem wah¬
ren Glücke vorzieht und ihre Hand einem andern jungen Manne
reicht, ohne ihn zu lieben. Der verrathene Liebhaber in seiner
Verzweiflung tödtet sich selbst. Dies ist die ziemlich abgenützte
Grundfabel der beiden ersten Theile der Dziady; aber der Dichter
entschädigt für diese Alltäglichkeit seines Stoffes hinlänglich durch
den Reichthum und die Originalität der Art und Weise, wie er
ihn behandelt. Das Drama beginnt erst nach dem Tode des Hel-
den, während einer im Volke gebräuchlichen religiösen Ceremonie,
deren Ursprung bis in die heidnischen Zeiten Lithauens hinauf¬
reicht. In der Nacht des Allerseelentages nämlich versammelt sich
das Volk auf den Kirchhöfen, um die Seelen der Todten aus den
Gräbern hervorzurufen. Ein Harfenspieler, der zugleich Zauberer
ist, lockt durch seine Zaubersprüche und Beschwörungen alle zwi¬
schen Himmel und Erde umherirrenden Geister an sich. Sie kom¬
men in Masse herbei, um Nahrungsmittel und Gebete zu verlangen;
bei diesem Todtenfeste nun erscheint auch der junge Mann, den die
Liebe zum Selbstmörder gemacht hat. Ein Urtheilsspruch Gottes


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[0557] die Tiefen des Menschenherzens zu erforschen und die vorüber¬ huschenden Erscheinungen und Hirngespinnste deS Geistes festzuhal¬ ten. Die plastische Poesie hat der psychischen Platz gemacht; aus dem Zögling Goethe's ist ein Nebenbuhler Byron'S geworden. Der Stoff der beiden zuerst veröffentlichten Theile der „Dziady" ist wiederum sehr einfach; es entwickelt sich in ihnen nur ein rein innerlich spielendes Drama, das in einen phantastischen Nahmen eingelegt ist. Die philosophischen, politischen und socialen Tenden¬ zen des Dichters hat derselbe erst später in dem dritten Theil seines Werkes an den Tag gelegt, den er im Erile, nach den Qualen der Wilnaer Kerkermonate und nach dem Falle seines Vaterlandes geschrieben. Wir werden in diesem überhaupt mehr der Biographie als der Kritik gewidmeten Artikel Nichts über diesen Theil sagen und verweisen unsre Leser lieber auf das Beste, was darüber ge¬ schrieben worden, nämlich auf die Analyse, welche Georges Sand in der Revue de deur Mondes davon gegeben. Ein junger Mann, von heftigen Leidenschaften und begabt mit glühend lebhafter Einbildungskraft, liebt ein junges, eitles, flüchtiges Mädchen, die "eine glänzende äußere Stellung dem wah¬ ren Glücke vorzieht und ihre Hand einem andern jungen Manne reicht, ohne ihn zu lieben. Der verrathene Liebhaber in seiner Verzweiflung tödtet sich selbst. Dies ist die ziemlich abgenützte Grundfabel der beiden ersten Theile der Dziady; aber der Dichter entschädigt für diese Alltäglichkeit seines Stoffes hinlänglich durch den Reichthum und die Originalität der Art und Weise, wie er ihn behandelt. Das Drama beginnt erst nach dem Tode des Hel- den, während einer im Volke gebräuchlichen religiösen Ceremonie, deren Ursprung bis in die heidnischen Zeiten Lithauens hinauf¬ reicht. In der Nacht des Allerseelentages nämlich versammelt sich das Volk auf den Kirchhöfen, um die Seelen der Todten aus den Gräbern hervorzurufen. Ein Harfenspieler, der zugleich Zauberer ist, lockt durch seine Zaubersprüche und Beschwörungen alle zwi¬ schen Himmel und Erde umherirrenden Geister an sich. Sie kom¬ men in Masse herbei, um Nahrungsmittel und Gebete zu verlangen; bei diesem Todtenfeste nun erscheint auch der junge Mann, den die Liebe zum Selbstmörder gemacht hat. Ein Urtheilsspruch Gottes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/557>, abgerufen am 23.07.2024.