Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

enthalteS zu Wilna vorzüglich Mathematik und Naturwissenschaften;
bald aber fühlte er sich in dieser kalten Region der Linien und Zah¬
len unbehaglich. Die melodischen Verse der großen Dichter deS
Alterthums flößten ihm je länger je heftigeren Widerwillen gegen
die todten und starren Formeln seiner Wissenschaft ein. Er verließ
daher, nachdem er den Grad eines Baccalaureus darin errungen,
diese Studien und ging mit ungetheilten Eifer und wahrer Begei¬
sterung zu dem der altclassischen und der heimischen Sprache und
Literatur über. Vortheilhaft und tiefwirkend wurden für seine fer¬
nere Entwickelung nun besonders die Vorträge der drei ausgezeich¬
netsten Professoren Wilnas: Gottfried Groddeck, ein gediegener und
geschmackvoller Kenner der classischen Literatur, Lelewel, der geist¬
volle Lehrer der Universalgeschichte und vor Allem Leon Borowski,
ein ausgezeichneter Kritiker und Förderer des Fortschrittes der Na-
tionalliteratnr, deren Geschichte er lehrte. Er vorzüglich machte die
empfängliche Jugend mit den Schönheiten einer kühnerem, begeistert
freien Anschauung und Form der Poesie bekannt und vertraut, wie
sie damals durch das allgemeiner werdende Studium der deutschen
und englischen Literatur dem umfassenderen Verständniß Europas
näher gerückt wurden.

Neben der noch in ihrem vollen Glänze strahlenden neuen deut¬
schen sentimentalen und plastischen Dichterschule, wie sie durch Les¬
sing, Herder, Schiller, Göthe und ihre großen andern Zeitgenossen
begründet worden, war durch den Aufschwung, den in den Jahren
1813 -- 15 das gesammte deutsche Nationalleben genommen hatte,
eine neue, lebhafter und energischer sich bewegende, die sogenannte
romantische erstanden. Die beiden Schlegel, ihre vorzüglichsten
Häupter, setzten das Werk Lessing'S fort und zerstörten, was noch
an morschen Trümmern veralteter Ideen in der Aesthetik und Kunst-
cinschauung unter der Hand jenes gewaltigen Titanen stehen geblie¬
ben war. In England, dem Lande, woher durch Shakspeare das
belebende Element der deutschen dramatischen Poesie gekommen, das
aber selbst seitdem keinen großen Dichter aufzuweisen gehabt, waren
Walter Scott, Byron und Shelley aufgetreten und machten einan¬
der die Bewunderung nicht blos ihres Landes, sondern des ganzen
poetischen Europa streitig. In Frankreich endlich war neben der
Revolution der politischen Verhältnisse !"und eine Umgestaltung der


enthalteS zu Wilna vorzüglich Mathematik und Naturwissenschaften;
bald aber fühlte er sich in dieser kalten Region der Linien und Zah¬
len unbehaglich. Die melodischen Verse der großen Dichter deS
Alterthums flößten ihm je länger je heftigeren Widerwillen gegen
die todten und starren Formeln seiner Wissenschaft ein. Er verließ
daher, nachdem er den Grad eines Baccalaureus darin errungen,
diese Studien und ging mit ungetheilten Eifer und wahrer Begei¬
sterung zu dem der altclassischen und der heimischen Sprache und
Literatur über. Vortheilhaft und tiefwirkend wurden für seine fer¬
nere Entwickelung nun besonders die Vorträge der drei ausgezeich¬
netsten Professoren Wilnas: Gottfried Groddeck, ein gediegener und
geschmackvoller Kenner der classischen Literatur, Lelewel, der geist¬
volle Lehrer der Universalgeschichte und vor Allem Leon Borowski,
ein ausgezeichneter Kritiker und Förderer des Fortschrittes der Na-
tionalliteratnr, deren Geschichte er lehrte. Er vorzüglich machte die
empfängliche Jugend mit den Schönheiten einer kühnerem, begeistert
freien Anschauung und Form der Poesie bekannt und vertraut, wie
sie damals durch das allgemeiner werdende Studium der deutschen
und englischen Literatur dem umfassenderen Verständniß Europas
näher gerückt wurden.

Neben der noch in ihrem vollen Glänze strahlenden neuen deut¬
schen sentimentalen und plastischen Dichterschule, wie sie durch Les¬
sing, Herder, Schiller, Göthe und ihre großen andern Zeitgenossen
begründet worden, war durch den Aufschwung, den in den Jahren
1813 — 15 das gesammte deutsche Nationalleben genommen hatte,
eine neue, lebhafter und energischer sich bewegende, die sogenannte
romantische erstanden. Die beiden Schlegel, ihre vorzüglichsten
Häupter, setzten das Werk Lessing'S fort und zerstörten, was noch
an morschen Trümmern veralteter Ideen in der Aesthetik und Kunst-
cinschauung unter der Hand jenes gewaltigen Titanen stehen geblie¬
ben war. In England, dem Lande, woher durch Shakspeare das
belebende Element der deutschen dramatischen Poesie gekommen, das
aber selbst seitdem keinen großen Dichter aufzuweisen gehabt, waren
Walter Scott, Byron und Shelley aufgetreten und machten einan¬
der die Bewunderung nicht blos ihres Landes, sondern des ganzen
poetischen Europa streitig. In Frankreich endlich war neben der
Revolution der politischen Verhältnisse !«und eine Umgestaltung der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0552" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/267169"/>
            <p xml:id="ID_1519" prev="#ID_1518"> enthalteS zu Wilna vorzüglich Mathematik und Naturwissenschaften;<lb/>
bald aber fühlte er sich in dieser kalten Region der Linien und Zah¬<lb/>
len unbehaglich. Die melodischen Verse der großen Dichter deS<lb/>
Alterthums flößten ihm je länger je heftigeren Widerwillen gegen<lb/>
die todten und starren Formeln seiner Wissenschaft ein. Er verließ<lb/>
daher, nachdem er den Grad eines Baccalaureus darin errungen,<lb/>
diese Studien und ging mit ungetheilten Eifer und wahrer Begei¬<lb/>
sterung zu dem der altclassischen und der heimischen Sprache und<lb/>
Literatur über. Vortheilhaft und tiefwirkend wurden für seine fer¬<lb/>
nere Entwickelung nun besonders die Vorträge der drei ausgezeich¬<lb/>
netsten Professoren Wilnas: Gottfried Groddeck, ein gediegener und<lb/>
geschmackvoller Kenner der classischen Literatur, Lelewel, der geist¬<lb/>
volle Lehrer der Universalgeschichte und vor Allem Leon Borowski,<lb/>
ein ausgezeichneter Kritiker und Förderer des Fortschrittes der Na-<lb/>
tionalliteratnr, deren Geschichte er lehrte. Er vorzüglich machte die<lb/>
empfängliche Jugend mit den Schönheiten einer kühnerem, begeistert<lb/>
freien Anschauung und Form der Poesie bekannt und vertraut, wie<lb/>
sie damals durch das allgemeiner werdende Studium der deutschen<lb/>
und englischen Literatur dem umfassenderen Verständniß Europas<lb/>
näher gerückt wurden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1520" next="#ID_1521"> Neben der noch in ihrem vollen Glänze strahlenden neuen deut¬<lb/>
schen sentimentalen und plastischen Dichterschule, wie sie durch Les¬<lb/>
sing, Herder, Schiller, Göthe und ihre großen andern Zeitgenossen<lb/>
begründet worden, war durch den Aufschwung, den in den Jahren<lb/>
1813 &#x2014; 15 das gesammte deutsche Nationalleben genommen hatte,<lb/>
eine neue, lebhafter und energischer sich bewegende, die sogenannte<lb/>
romantische erstanden. Die beiden Schlegel, ihre vorzüglichsten<lb/>
Häupter, setzten das Werk Lessing'S fort und zerstörten, was noch<lb/>
an morschen Trümmern veralteter Ideen in der Aesthetik und Kunst-<lb/>
cinschauung unter der Hand jenes gewaltigen Titanen stehen geblie¬<lb/>
ben war. In England, dem Lande, woher durch Shakspeare das<lb/>
belebende Element der deutschen dramatischen Poesie gekommen, das<lb/>
aber selbst seitdem keinen großen Dichter aufzuweisen gehabt, waren<lb/>
Walter Scott, Byron und Shelley aufgetreten und machten einan¬<lb/>
der die Bewunderung nicht blos ihres Landes, sondern des ganzen<lb/>
poetischen Europa streitig. In Frankreich endlich war neben der<lb/>
Revolution der politischen Verhältnisse !«und eine Umgestaltung der</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0552] enthalteS zu Wilna vorzüglich Mathematik und Naturwissenschaften; bald aber fühlte er sich in dieser kalten Region der Linien und Zah¬ len unbehaglich. Die melodischen Verse der großen Dichter deS Alterthums flößten ihm je länger je heftigeren Widerwillen gegen die todten und starren Formeln seiner Wissenschaft ein. Er verließ daher, nachdem er den Grad eines Baccalaureus darin errungen, diese Studien und ging mit ungetheilten Eifer und wahrer Begei¬ sterung zu dem der altclassischen und der heimischen Sprache und Literatur über. Vortheilhaft und tiefwirkend wurden für seine fer¬ nere Entwickelung nun besonders die Vorträge der drei ausgezeich¬ netsten Professoren Wilnas: Gottfried Groddeck, ein gediegener und geschmackvoller Kenner der classischen Literatur, Lelewel, der geist¬ volle Lehrer der Universalgeschichte und vor Allem Leon Borowski, ein ausgezeichneter Kritiker und Förderer des Fortschrittes der Na- tionalliteratnr, deren Geschichte er lehrte. Er vorzüglich machte die empfängliche Jugend mit den Schönheiten einer kühnerem, begeistert freien Anschauung und Form der Poesie bekannt und vertraut, wie sie damals durch das allgemeiner werdende Studium der deutschen und englischen Literatur dem umfassenderen Verständniß Europas näher gerückt wurden. Neben der noch in ihrem vollen Glänze strahlenden neuen deut¬ schen sentimentalen und plastischen Dichterschule, wie sie durch Les¬ sing, Herder, Schiller, Göthe und ihre großen andern Zeitgenossen begründet worden, war durch den Aufschwung, den in den Jahren 1813 — 15 das gesammte deutsche Nationalleben genommen hatte, eine neue, lebhafter und energischer sich bewegende, die sogenannte romantische erstanden. Die beiden Schlegel, ihre vorzüglichsten Häupter, setzten das Werk Lessing'S fort und zerstörten, was noch an morschen Trümmern veralteter Ideen in der Aesthetik und Kunst- cinschauung unter der Hand jenes gewaltigen Titanen stehen geblie¬ ben war. In England, dem Lande, woher durch Shakspeare das belebende Element der deutschen dramatischen Poesie gekommen, das aber selbst seitdem keinen großen Dichter aufzuweisen gehabt, waren Walter Scott, Byron und Shelley aufgetreten und machten einan¬ der die Bewunderung nicht blos ihres Landes, sondern des ganzen poetischen Europa streitig. In Frankreich endlich war neben der Revolution der politischen Verhältnisse !«und eine Umgestaltung der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/552
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/552>, abgerufen am 23.07.2024.