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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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lung der Irren verwende. "Wäre es nicht besser," äußerte sich unter
Andern ein bedeutender Arzt gegen ""ich, "den aufopfernden Fleiß
der Aerzte und das Geld des Landes für andre Krankheiten zu
verwenden, deren Geheimnisse die Wissenschaft kennt, und die zu be¬
siegen sie mehr Aussicht hat?" -- Aber fragen wir dagegen, sollen
wir, weil Gott in seiner weisen und gerechten Strenge und aus
uns unbegreiflichen Ursachen einen Theil der menschlichen Familie
hart behandelt hat, deshalb grausam gegen ihn sein? Nein, sagen
wir und erklären uns in aller Demuth unmaßgeblich dahin, daß
jedes Mittel, wodurch diese Unglücklichen eine Rast in ihren Leiden
erlangen, sei es auch nur eine zweistündige jeden Tag, uns eine
Eroberung zum Heil der Menschheit dünkt, daß also alle dadurch
veranlaßten Ausgaben, selbst der Ankauf eines Pianoforte und die
monatliche Bezahlung eines Klavierstimmers uns keinesweges eine
Verschwendung scheinen. So lange wir in Europa nicht so inhuman
werden, daß wir mit Lykurg und den chinesischen Gesetzgebern,
alle dem Staate unnützen Wesen zum Tode verurtheilen, so lange
werden Irrenanstalten auf Kosten der Gesammtheit eine Nothwen¬
digkeit und Erleichterung des traurigen Looses dieser Unglücklichen
eine heilige Pflicht sein.

Doch ist eS Zeit, daß wir in den Nahmen unsres Artikels zu¬
rückkehren, über den hinaus uns das Interesse des Gegenstandes
unwillkürlich fortgerissen hat. Mögen also unsre Leser gütigst mit
uns und den berühmten Künstlern, denen wir uns angeschlossen, in
eine zweite Classe der Deklamation und des Gesanges eintreten, die
ebenfalls in der Anstalt des Dr. TrÄat besteht.

Hier hat man wahrhaft erstaunliche Resultate erhalten. Die
Deklamationen prosaischer und poetischer Stücke zeigen von einer
größeren Ruhe der Geister, von einer Folgerichtigkeit der Ideen, die
man bei Irren kaum für möglich halten möchte. Wir hörten hier
nach einander mehrere sehr gut und in vollkommenster Ordnung vor^
getragene zweistimmige Romanzen und Notturni. Bet den Schüle¬
rinnen dieser Classe war der Wetteifer dermaßen entwickelt", daß
einzelne von ihnen, begierig vor dem fremden Besuche alle ihre besten
Leistungen an den Tag zu legen, dem Lehrer auf einem zusammen-,
gelegten Streifen Papier den Titel der Declamations- oder Gesang,
Stücke zukommen ließen, die sie am besten inne hatten, oder mit


lung der Irren verwende. „Wäre es nicht besser," äußerte sich unter
Andern ein bedeutender Arzt gegen »»ich, „den aufopfernden Fleiß
der Aerzte und das Geld des Landes für andre Krankheiten zu
verwenden, deren Geheimnisse die Wissenschaft kennt, und die zu be¬
siegen sie mehr Aussicht hat?" — Aber fragen wir dagegen, sollen
wir, weil Gott in seiner weisen und gerechten Strenge und aus
uns unbegreiflichen Ursachen einen Theil der menschlichen Familie
hart behandelt hat, deshalb grausam gegen ihn sein? Nein, sagen
wir und erklären uns in aller Demuth unmaßgeblich dahin, daß
jedes Mittel, wodurch diese Unglücklichen eine Rast in ihren Leiden
erlangen, sei es auch nur eine zweistündige jeden Tag, uns eine
Eroberung zum Heil der Menschheit dünkt, daß also alle dadurch
veranlaßten Ausgaben, selbst der Ankauf eines Pianoforte und die
monatliche Bezahlung eines Klavierstimmers uns keinesweges eine
Verschwendung scheinen. So lange wir in Europa nicht so inhuman
werden, daß wir mit Lykurg und den chinesischen Gesetzgebern,
alle dem Staate unnützen Wesen zum Tode verurtheilen, so lange
werden Irrenanstalten auf Kosten der Gesammtheit eine Nothwen¬
digkeit und Erleichterung des traurigen Looses dieser Unglücklichen
eine heilige Pflicht sein.

Doch ist eS Zeit, daß wir in den Nahmen unsres Artikels zu¬
rückkehren, über den hinaus uns das Interesse des Gegenstandes
unwillkürlich fortgerissen hat. Mögen also unsre Leser gütigst mit
uns und den berühmten Künstlern, denen wir uns angeschlossen, in
eine zweite Classe der Deklamation und des Gesanges eintreten, die
ebenfalls in der Anstalt des Dr. TrÄat besteht.

Hier hat man wahrhaft erstaunliche Resultate erhalten. Die
Deklamationen prosaischer und poetischer Stücke zeigen von einer
größeren Ruhe der Geister, von einer Folgerichtigkeit der Ideen, die
man bei Irren kaum für möglich halten möchte. Wir hörten hier
nach einander mehrere sehr gut und in vollkommenster Ordnung vor^
getragene zweistimmige Romanzen und Notturni. Bet den Schüle¬
rinnen dieser Classe war der Wetteifer dermaßen entwickelt", daß
einzelne von ihnen, begierig vor dem fremden Besuche alle ihre besten
Leistungen an den Tag zu legen, dem Lehrer auf einem zusammen-,
gelegten Streifen Papier den Titel der Declamations- oder Gesang,
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[0487] lung der Irren verwende. „Wäre es nicht besser," äußerte sich unter Andern ein bedeutender Arzt gegen »»ich, „den aufopfernden Fleiß der Aerzte und das Geld des Landes für andre Krankheiten zu verwenden, deren Geheimnisse die Wissenschaft kennt, und die zu be¬ siegen sie mehr Aussicht hat?" — Aber fragen wir dagegen, sollen wir, weil Gott in seiner weisen und gerechten Strenge und aus uns unbegreiflichen Ursachen einen Theil der menschlichen Familie hart behandelt hat, deshalb grausam gegen ihn sein? Nein, sagen wir und erklären uns in aller Demuth unmaßgeblich dahin, daß jedes Mittel, wodurch diese Unglücklichen eine Rast in ihren Leiden erlangen, sei es auch nur eine zweistündige jeden Tag, uns eine Eroberung zum Heil der Menschheit dünkt, daß also alle dadurch veranlaßten Ausgaben, selbst der Ankauf eines Pianoforte und die monatliche Bezahlung eines Klavierstimmers uns keinesweges eine Verschwendung scheinen. So lange wir in Europa nicht so inhuman werden, daß wir mit Lykurg und den chinesischen Gesetzgebern, alle dem Staate unnützen Wesen zum Tode verurtheilen, so lange werden Irrenanstalten auf Kosten der Gesammtheit eine Nothwen¬ digkeit und Erleichterung des traurigen Looses dieser Unglücklichen eine heilige Pflicht sein. Doch ist eS Zeit, daß wir in den Nahmen unsres Artikels zu¬ rückkehren, über den hinaus uns das Interesse des Gegenstandes unwillkürlich fortgerissen hat. Mögen also unsre Leser gütigst mit uns und den berühmten Künstlern, denen wir uns angeschlossen, in eine zweite Classe der Deklamation und des Gesanges eintreten, die ebenfalls in der Anstalt des Dr. TrÄat besteht. Hier hat man wahrhaft erstaunliche Resultate erhalten. Die Deklamationen prosaischer und poetischer Stücke zeigen von einer größeren Ruhe der Geister, von einer Folgerichtigkeit der Ideen, die man bei Irren kaum für möglich halten möchte. Wir hörten hier nach einander mehrere sehr gut und in vollkommenster Ordnung vor^ getragene zweistimmige Romanzen und Notturni. Bet den Schüle¬ rinnen dieser Classe war der Wetteifer dermaßen entwickelt", daß einzelne von ihnen, begierig vor dem fremden Besuche alle ihre besten Leistungen an den Tag zu legen, dem Lehrer auf einem zusammen-, gelegten Streifen Papier den Titel der Declamations- oder Gesang, Stücke zukommen ließen, die sie am besten inne hatten, oder mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/487>, abgerufen am 26.08.2024.