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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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denen sie am meisten Ehre einzulegen, ihre Stimme im vollsten Glanz
zu zeigen hofften. So recitirte eine schöne, junge Dame mit einem
rührenden Ausdruck tiefen Gefühls Lamartine's "Gebet eines See¬
mannes." So sagte eine andre junge Person, deren Wiederherstel¬
lung so weit vorgeschritten ist, daß sie bald wieder ihren früheren
Platz in der Gesellschaft, als ausgezeichnete Lehrerin, wird einneh¬
men können, eine Scene aus einem kleinen Lustspiel mit unendlich
vielem Witze her. So bezeugten mehrere andere Damen, durch die
Recitation einiger Lafontaine'schen Fabeln das vollständige Verständniß
des Inhalts ihrer Seits und berechtigten zur Hoffnung einer baldigen
Rückkehr zur Vernunft. .

Ein von allen Anwesenden gesungenes Ensemblestück machte
den Uebergang zum musikalischen Theil der Stunde. Nach demsel¬
ben sang ein junger Poltergeist (deren eS leider selbst unter den
vernünftigsten Bewohnerinnen der Anstalt giebt) eine Romanze aus
einer komischen Oper mit so viel gemüthlicher Laune und so genau
dazu passendem -Rienenspiel, daß es einer Theatersängerin keine
Schande gemacht hätte. Hierauf sangen zwei Damen, die eine ein
Sopran mit sehr richtigem Treffen der Noten, die andere ein aus¬
gezeichneter Contrealt, ein Notturno, betitelt: "Der Genfer See"
auf eine Weise, daß ihnen im schönsten Conzert allgemeiner Beifall
nicht entgangen wäre. Nachdem noch mehrere Stücke ausgeführt
wurden, welche alle eine Probe anhaltenden Studirens, wieder auf¬
gewachter Geisteskraft und wenigstens großen Theils zurückeroberten
Verstandes abgaben, wurden seine Schülerinnen reichlich belohnt.
Geraldv nämlich sang ihnen Romanzen und Bravourarien mit jenem
seelenvollen Gefühlsausdruck, der ihm eigen ist. Er erntete dafür
die wärmsten Beifallsbezeugungen seiner sämmtlichen Zuhörer. So¬
dann setzte sich Liszt an'S Pianoforte und spielte das Finale aus der
Ouvertüre zu "Wilhelm Tell." Als er an das Crescendo kam,
das stets, selbst auf die blastrtesten Zuhörer der großen Oper, einen
gewaltigen Eindruck zu machen nicht verfehlt, gab sich von Seiten
der reizbareren Organisationen eine so diese, aus dem Innersten her¬
vorbringende Empfindsamkeit kund, daß wir einen Augenblick be¬
fürchteten, dieses Delirium des Glückes werde im wirklichen Wahn¬
sinn übergehen. Gott sei Dank aber war dies nicht der Fall.

Kaum hatte der große Künstler sein Spiel beendet, so kam den


denen sie am meisten Ehre einzulegen, ihre Stimme im vollsten Glanz
zu zeigen hofften. So recitirte eine schöne, junge Dame mit einem
rührenden Ausdruck tiefen Gefühls Lamartine's „Gebet eines See¬
mannes." So sagte eine andre junge Person, deren Wiederherstel¬
lung so weit vorgeschritten ist, daß sie bald wieder ihren früheren
Platz in der Gesellschaft, als ausgezeichnete Lehrerin, wird einneh¬
men können, eine Scene aus einem kleinen Lustspiel mit unendlich
vielem Witze her. So bezeugten mehrere andere Damen, durch die
Recitation einiger Lafontaine'schen Fabeln das vollständige Verständniß
des Inhalts ihrer Seits und berechtigten zur Hoffnung einer baldigen
Rückkehr zur Vernunft. .

Ein von allen Anwesenden gesungenes Ensemblestück machte
den Uebergang zum musikalischen Theil der Stunde. Nach demsel¬
ben sang ein junger Poltergeist (deren eS leider selbst unter den
vernünftigsten Bewohnerinnen der Anstalt giebt) eine Romanze aus
einer komischen Oper mit so viel gemüthlicher Laune und so genau
dazu passendem -Rienenspiel, daß es einer Theatersängerin keine
Schande gemacht hätte. Hierauf sangen zwei Damen, die eine ein
Sopran mit sehr richtigem Treffen der Noten, die andere ein aus¬
gezeichneter Contrealt, ein Notturno, betitelt: „Der Genfer See"
auf eine Weise, daß ihnen im schönsten Conzert allgemeiner Beifall
nicht entgangen wäre. Nachdem noch mehrere Stücke ausgeführt
wurden, welche alle eine Probe anhaltenden Studirens, wieder auf¬
gewachter Geisteskraft und wenigstens großen Theils zurückeroberten
Verstandes abgaben, wurden seine Schülerinnen reichlich belohnt.
Geraldv nämlich sang ihnen Romanzen und Bravourarien mit jenem
seelenvollen Gefühlsausdruck, der ihm eigen ist. Er erntete dafür
die wärmsten Beifallsbezeugungen seiner sämmtlichen Zuhörer. So¬
dann setzte sich Liszt an'S Pianoforte und spielte das Finale aus der
Ouvertüre zu „Wilhelm Tell." Als er an das Crescendo kam,
das stets, selbst auf die blastrtesten Zuhörer der großen Oper, einen
gewaltigen Eindruck zu machen nicht verfehlt, gab sich von Seiten
der reizbareren Organisationen eine so diese, aus dem Innersten her¬
vorbringende Empfindsamkeit kund, daß wir einen Augenblick be¬
fürchteten, dieses Delirium des Glückes werde im wirklichen Wahn¬
sinn übergehen. Gott sei Dank aber war dies nicht der Fall.

Kaum hatte der große Künstler sein Spiel beendet, so kam den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/488>, abgerufen am 26.08.2024.