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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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führten Heimchen pflanzen sich so viele erbliche Uebel, zu denen eben
auch der Wahnsinn gehört, fort.

In Bezug auf die nun einmal nothwendig gewordene Absper¬
rung dieser Unglücklichen, -- eine Nothwendigkeit, vie stets be¬
stehend bleibt, -- ist es gegenüber einer so grausamen Gegenwart
und einer nicht minder schmerzlichen Zukunft ein Trost, zu wissen,
daß gewisse geistige Genüsse, besonders aber die Arbeit, nach und
nach in die Irrenhäuser Eingang finden können. Denn die Arbeit
gewährt diesen Köpfen, die auf ihre Art entsetzlich thätig sind, eine
gewisse Ruhe und diese Körper, die bald in ihren wüthenden, tollen
Bewegungen reglos sich zermartern, oder, wie zerbrochene Maschinen
ohne treibende Kraft, starr und unbeweglich bleiben, finden in einer
anhaltenden Beschäftigung ihre Gesundheit wieder. Und dieses Re¬
sultat wird wenigstens größten Theils der Musik verdankt, die eS
zwar nicht allein herbeiführt, aber doch seine Erreichung in hohem
Grade erleichtert.

Die Anwendung der Musik in Irrenhäusern ist übrigens nichts
Neues; Pinel, Esquirol, Pariset und andre berühmte Lehrer der
Seelenkrankheiten haben die Macht dieser Kunst erkannt und in den
von ihnen geleiteten Anstalten sie gebraucht. Die eigentliche Er¬
oberung der neuesten Zeit in dieser Beziehung ist, daß man die
Kranken, noch während sie in der Behandlung sind, zur Arbeit be¬
wogen und dazu die Musik als Reizmittel angewandthat. Außerdem
hat die Musik auch einen unmittelbaren, unbestreitbaren, leicht nach¬
zuweisenden Einfluß auf das Erwachen der geistigen Kräfte. Und
wenn es wahr ist, wie man uns versichert hat, daß nach jenen
Unterrichtsstunden, in denen sich die Macht der Harmonie durch die
vollkommne Ruhe der Gemüther und die Entwickelung eines rührend
kindlichen Wetteifers kund giebt, keine unangenehme Reaction ein¬
tritt, muß man alsdann nicht ein Mittel ermuthigen, dessen fast
zauberische Wirkung täglich den unglücklichen Wesen, die zu unauf¬
hörlichen Schmerzen verdammt scheinen, zwei bis drei Stunden des
Leidens auf unschädlichen Wege benimmt?

Wir haben, seitdem wir diesen Besuch in der Salpetriere ab¬
gestattet, sonst sehr ernste und bedächtig urtheilende Männer zu
unsrem Erstaunen sich tadelnd darüber aussprechen hören, daß man
in neuester Zeit eine so außerordentliche Sorgfalt auf die BeHand-


führten Heimchen pflanzen sich so viele erbliche Uebel, zu denen eben
auch der Wahnsinn gehört, fort.

In Bezug auf die nun einmal nothwendig gewordene Absper¬
rung dieser Unglücklichen, — eine Nothwendigkeit, vie stets be¬
stehend bleibt, — ist es gegenüber einer so grausamen Gegenwart
und einer nicht minder schmerzlichen Zukunft ein Trost, zu wissen,
daß gewisse geistige Genüsse, besonders aber die Arbeit, nach und
nach in die Irrenhäuser Eingang finden können. Denn die Arbeit
gewährt diesen Köpfen, die auf ihre Art entsetzlich thätig sind, eine
gewisse Ruhe und diese Körper, die bald in ihren wüthenden, tollen
Bewegungen reglos sich zermartern, oder, wie zerbrochene Maschinen
ohne treibende Kraft, starr und unbeweglich bleiben, finden in einer
anhaltenden Beschäftigung ihre Gesundheit wieder. Und dieses Re¬
sultat wird wenigstens größten Theils der Musik verdankt, die eS
zwar nicht allein herbeiführt, aber doch seine Erreichung in hohem
Grade erleichtert.

Die Anwendung der Musik in Irrenhäusern ist übrigens nichts
Neues; Pinel, Esquirol, Pariset und andre berühmte Lehrer der
Seelenkrankheiten haben die Macht dieser Kunst erkannt und in den
von ihnen geleiteten Anstalten sie gebraucht. Die eigentliche Er¬
oberung der neuesten Zeit in dieser Beziehung ist, daß man die
Kranken, noch während sie in der Behandlung sind, zur Arbeit be¬
wogen und dazu die Musik als Reizmittel angewandthat. Außerdem
hat die Musik auch einen unmittelbaren, unbestreitbaren, leicht nach¬
zuweisenden Einfluß auf das Erwachen der geistigen Kräfte. Und
wenn es wahr ist, wie man uns versichert hat, daß nach jenen
Unterrichtsstunden, in denen sich die Macht der Harmonie durch die
vollkommne Ruhe der Gemüther und die Entwickelung eines rührend
kindlichen Wetteifers kund giebt, keine unangenehme Reaction ein¬
tritt, muß man alsdann nicht ein Mittel ermuthigen, dessen fast
zauberische Wirkung täglich den unglücklichen Wesen, die zu unauf¬
hörlichen Schmerzen verdammt scheinen, zwei bis drei Stunden des
Leidens auf unschädlichen Wege benimmt?

Wir haben, seitdem wir diesen Besuch in der Salpetriere ab¬
gestattet, sonst sehr ernste und bedächtig urtheilende Männer zu
unsrem Erstaunen sich tadelnd darüber aussprechen hören, daß man
in neuester Zeit eine so außerordentliche Sorgfalt auf die BeHand-


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[0486] führten Heimchen pflanzen sich so viele erbliche Uebel, zu denen eben auch der Wahnsinn gehört, fort. In Bezug auf die nun einmal nothwendig gewordene Absper¬ rung dieser Unglücklichen, — eine Nothwendigkeit, vie stets be¬ stehend bleibt, — ist es gegenüber einer so grausamen Gegenwart und einer nicht minder schmerzlichen Zukunft ein Trost, zu wissen, daß gewisse geistige Genüsse, besonders aber die Arbeit, nach und nach in die Irrenhäuser Eingang finden können. Denn die Arbeit gewährt diesen Köpfen, die auf ihre Art entsetzlich thätig sind, eine gewisse Ruhe und diese Körper, die bald in ihren wüthenden, tollen Bewegungen reglos sich zermartern, oder, wie zerbrochene Maschinen ohne treibende Kraft, starr und unbeweglich bleiben, finden in einer anhaltenden Beschäftigung ihre Gesundheit wieder. Und dieses Re¬ sultat wird wenigstens größten Theils der Musik verdankt, die eS zwar nicht allein herbeiführt, aber doch seine Erreichung in hohem Grade erleichtert. Die Anwendung der Musik in Irrenhäusern ist übrigens nichts Neues; Pinel, Esquirol, Pariset und andre berühmte Lehrer der Seelenkrankheiten haben die Macht dieser Kunst erkannt und in den von ihnen geleiteten Anstalten sie gebraucht. Die eigentliche Er¬ oberung der neuesten Zeit in dieser Beziehung ist, daß man die Kranken, noch während sie in der Behandlung sind, zur Arbeit be¬ wogen und dazu die Musik als Reizmittel angewandthat. Außerdem hat die Musik auch einen unmittelbaren, unbestreitbaren, leicht nach¬ zuweisenden Einfluß auf das Erwachen der geistigen Kräfte. Und wenn es wahr ist, wie man uns versichert hat, daß nach jenen Unterrichtsstunden, in denen sich die Macht der Harmonie durch die vollkommne Ruhe der Gemüther und die Entwickelung eines rührend kindlichen Wetteifers kund giebt, keine unangenehme Reaction ein¬ tritt, muß man alsdann nicht ein Mittel ermuthigen, dessen fast zauberische Wirkung täglich den unglücklichen Wesen, die zu unauf¬ hörlichen Schmerzen verdammt scheinen, zwei bis drei Stunden des Leidens auf unschädlichen Wege benimmt? Wir haben, seitdem wir diesen Besuch in der Salpetriere ab¬ gestattet, sonst sehr ernste und bedächtig urtheilende Männer zu unsrem Erstaunen sich tadelnd darüber aussprechen hören, daß man in neuester Zeit eine so außerordentliche Sorgfalt auf die BeHand-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/486>, abgerufen am 26.08.2024.