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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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sie durch eine schlechte Behandlung quält und ärgert, sondern sie im
Gegentheil mit zuvorkommender Sorgfalt überall aufnimmt. Sie
streifen daher frei und ungehindert durch die Städte, und die Thüren
aller Häuser stehen ihnen offen. So erhaben auch die gutmüthige
und gefühlvolle Grundlage dieses Aberglaubens -der Morgenländer
ist, so ist ihr Verfahren doch eine Unklugheit in gesellschaftlicher Be¬
ziehung und hat sehr oft bedeutende Nachtheile für das Gemein¬
wohl. Bei uns nun, wo die auf die Beobachtung fußende Wissen¬
schaft Schritt vor Schritt vorwärts gekommen ist, müßte man sich
dazu entschließen, diese traurige Abtheilung der großen Familie der
Menschheit so viel als möglich von den Uebrigen abzusperren. Ist
es zudem wahr, wie neuerdings immer zahlreichere Thatsachen es zu
erweisen scheinen, daß der Wahnsinn ein erbliches Uebel ist, so
können wir nicht umhin, unsre, wenn auch nur schwache Stimme
gegen die Meinung derjenigen Aerzte zu erheben, welche für andre
Länder Europas die Errichtung einer Irre ncolo nie vorschlagen,
wie sie seit dem sechsten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung in Gheel
in Belgien besteht, wo die Kranken in vollkommner Gemeinschaft
mit den andern Einwohnern leben und an ihren Arbeiten, wie an
ihren Vergnügungen Theil nehmen.

Ueber kurz oder lang werden wohl in diesem Punkte Wissen¬
schaft und Gesetzgebung mit einander übereinstimmen und wird die
letztere das Eingehen rechtskräftiger Ehen mit Personen, die mit
dieser unglücklichen Krankheit behaftet sind, nicht gestatten. Wir können
uns übrigens hier einer auf Thatsachen begründeten Bemerkung
nicht enthalten, daß nämlich die Fälle des erblichen Wahnsinnes bei
den Reichen und Adligen häufiger vorkommen, als in den mittleren
Classen der Gesellschaft. Der Wunsch, große Vermögensinassen
unzerstückelt beisammen zu halten, aristokratische Eitelkeit, deren ein¬
zige Sorge dahin geht, den Glanz eines alten Wappens nicht durch
eine Mesalliance zu beflecken, oft sogar diese beiden Gefühle in einem
und demselben Falle vereint, erlangen das Uebergewicht über alle
Rücksichten der Gesundheit und des häuslichen Glückes. Reiche ver¬
mählen sich mit ihren reichen Verwandten, Adlige verknüpfen die
verschiedenen Aeste thres Stammbaumes mit einander. Und in
Folge dieser nur von Geld- und Hochmuths-Rückstchten herbeige-


sie durch eine schlechte Behandlung quält und ärgert, sondern sie im
Gegentheil mit zuvorkommender Sorgfalt überall aufnimmt. Sie
streifen daher frei und ungehindert durch die Städte, und die Thüren
aller Häuser stehen ihnen offen. So erhaben auch die gutmüthige
und gefühlvolle Grundlage dieses Aberglaubens -der Morgenländer
ist, so ist ihr Verfahren doch eine Unklugheit in gesellschaftlicher Be¬
ziehung und hat sehr oft bedeutende Nachtheile für das Gemein¬
wohl. Bei uns nun, wo die auf die Beobachtung fußende Wissen¬
schaft Schritt vor Schritt vorwärts gekommen ist, müßte man sich
dazu entschließen, diese traurige Abtheilung der großen Familie der
Menschheit so viel als möglich von den Uebrigen abzusperren. Ist
es zudem wahr, wie neuerdings immer zahlreichere Thatsachen es zu
erweisen scheinen, daß der Wahnsinn ein erbliches Uebel ist, so
können wir nicht umhin, unsre, wenn auch nur schwache Stimme
gegen die Meinung derjenigen Aerzte zu erheben, welche für andre
Länder Europas die Errichtung einer Irre ncolo nie vorschlagen,
wie sie seit dem sechsten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung in Gheel
in Belgien besteht, wo die Kranken in vollkommner Gemeinschaft
mit den andern Einwohnern leben und an ihren Arbeiten, wie an
ihren Vergnügungen Theil nehmen.

Ueber kurz oder lang werden wohl in diesem Punkte Wissen¬
schaft und Gesetzgebung mit einander übereinstimmen und wird die
letztere das Eingehen rechtskräftiger Ehen mit Personen, die mit
dieser unglücklichen Krankheit behaftet sind, nicht gestatten. Wir können
uns übrigens hier einer auf Thatsachen begründeten Bemerkung
nicht enthalten, daß nämlich die Fälle des erblichen Wahnsinnes bei
den Reichen und Adligen häufiger vorkommen, als in den mittleren
Classen der Gesellschaft. Der Wunsch, große Vermögensinassen
unzerstückelt beisammen zu halten, aristokratische Eitelkeit, deren ein¬
zige Sorge dahin geht, den Glanz eines alten Wappens nicht durch
eine Mesalliance zu beflecken, oft sogar diese beiden Gefühle in einem
und demselben Falle vereint, erlangen das Uebergewicht über alle
Rücksichten der Gesundheit und des häuslichen Glückes. Reiche ver¬
mählen sich mit ihren reichen Verwandten, Adlige verknüpfen die
verschiedenen Aeste thres Stammbaumes mit einander. Und in
Folge dieser nur von Geld- und Hochmuths-Rückstchten herbeige-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/485>, abgerufen am 26.08.2024.