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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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EinBesuchineiner Irrenanstalt



Von all den zahlreichen Uebeln, welche die arme Menschheit
quälen, ist unstreitig die Tollheit die grausamste. Der Blinde, der
Taube, der Stumme haben sicherlich auch gerechte Ansprüche an unser
Mitleid; aber immer erkennt man in ihnen noch das Meisterwerk der
Schöpfung wieder. Zudem scheint der allgütige Schöpfer diejenigen
seiner Kinder, denen er einen Sinn geraubt, eine Entschädigung durch
die größere Feinheit und höhere Potenzirung der ihnen verbliebenen
dargeboten zu haben. Aber der Irre, der Blödsinnige, waS soll
diese Unglücklichen für den Verlust ihres Verstandes, für, ihre Thier-
werdung entschädigen?

Dergleichen traurige Gedanken bildeten letzthin den Stoff eines
Gesprächs zwischen Meyerbeer, Liszt, Geraldy, einem der berühmte¬
sten Concertsänger und Gesanglehrer, der abwechselnd in Paris und
Brüssel lebt) und dem Schreiber dieser Zeilen auf dem Wege nach
der Salpetriere (einer pariser Anstalt für weibliche Irre) die wir
gemeinschaftlich besuchen wollten, besonders in der Absicht, uns über
den Einfluß der Musik auf die Behandlung der Irren zu belehren.

Was wir Alle bei diesem Besuche empfunden, das hier zu be¬
schreiben halte ich für eine heilige Pflicht, um dadurch einer Me¬
thode möglichst größte Verbreitung zu verschaffen, die ganz auf lie¬
bevoller Sanftmuth beruhend, den glücklichen Erfolg gehabt hat,
daß Wesen, in denen nur noch das rein thierische Lebensprinzip zu


EinBesuchineiner Irrenanstalt



Von all den zahlreichen Uebeln, welche die arme Menschheit
quälen, ist unstreitig die Tollheit die grausamste. Der Blinde, der
Taube, der Stumme haben sicherlich auch gerechte Ansprüche an unser
Mitleid; aber immer erkennt man in ihnen noch das Meisterwerk der
Schöpfung wieder. Zudem scheint der allgütige Schöpfer diejenigen
seiner Kinder, denen er einen Sinn geraubt, eine Entschädigung durch
die größere Feinheit und höhere Potenzirung der ihnen verbliebenen
dargeboten zu haben. Aber der Irre, der Blödsinnige, waS soll
diese Unglücklichen für den Verlust ihres Verstandes, für, ihre Thier-
werdung entschädigen?

Dergleichen traurige Gedanken bildeten letzthin den Stoff eines
Gesprächs zwischen Meyerbeer, Liszt, Geraldy, einem der berühmte¬
sten Concertsänger und Gesanglehrer, der abwechselnd in Paris und
Brüssel lebt) und dem Schreiber dieser Zeilen auf dem Wege nach
der Salpetriere (einer pariser Anstalt für weibliche Irre) die wir
gemeinschaftlich besuchen wollten, besonders in der Absicht, uns über
den Einfluß der Musik auf die Behandlung der Irren zu belehren.

Was wir Alle bei diesem Besuche empfunden, das hier zu be¬
schreiben halte ich für eine heilige Pflicht, um dadurch einer Me¬
thode möglichst größte Verbreitung zu verschaffen, die ganz auf lie¬
bevoller Sanftmuth beruhend, den glücklichen Erfolg gehabt hat,
daß Wesen, in denen nur noch das rein thierische Lebensprinzip zu


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[0479] EinBesuchineiner Irrenanstalt Von all den zahlreichen Uebeln, welche die arme Menschheit quälen, ist unstreitig die Tollheit die grausamste. Der Blinde, der Taube, der Stumme haben sicherlich auch gerechte Ansprüche an unser Mitleid; aber immer erkennt man in ihnen noch das Meisterwerk der Schöpfung wieder. Zudem scheint der allgütige Schöpfer diejenigen seiner Kinder, denen er einen Sinn geraubt, eine Entschädigung durch die größere Feinheit und höhere Potenzirung der ihnen verbliebenen dargeboten zu haben. Aber der Irre, der Blödsinnige, waS soll diese Unglücklichen für den Verlust ihres Verstandes, für, ihre Thier- werdung entschädigen? Dergleichen traurige Gedanken bildeten letzthin den Stoff eines Gesprächs zwischen Meyerbeer, Liszt, Geraldy, einem der berühmte¬ sten Concertsänger und Gesanglehrer, der abwechselnd in Paris und Brüssel lebt) und dem Schreiber dieser Zeilen auf dem Wege nach der Salpetriere (einer pariser Anstalt für weibliche Irre) die wir gemeinschaftlich besuchen wollten, besonders in der Absicht, uns über den Einfluß der Musik auf die Behandlung der Irren zu belehren. Was wir Alle bei diesem Besuche empfunden, das hier zu be¬ schreiben halte ich für eine heilige Pflicht, um dadurch einer Me¬ thode möglichst größte Verbreitung zu verschaffen, die ganz auf lie¬ bevoller Sanftmuth beruhend, den glücklichen Erfolg gehabt hat, daß Wesen, in denen nur noch das rein thierische Lebensprinzip zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/479>, abgerufen am 23.07.2024.