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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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gelegt, die ihm selber die heiligsten sind, seinen Glauben an die Ge¬
schichte, ein den Fortschritt nach dem Ziel, dem freien Geiste; und
luerin eben liegt die volle Wirkung, die Einigung des Gedichtes
mit der jetzigen Welt, wie diese im Dichter sich abspiegelt.

Man kann das Gedicht in drei Hauptmassen abtheilen, ohne
daß diese jedoch äußerlich eine strenge Scheidung zuließen. Der
Dichter führt uns zuerst in die Stimmung, in die geistige Atmo¬
sphäre der Zeit; aber diesem historischen Geist kommt sein eigener
entgegen, in ihm selber tauchen die Ideen und Widersprüche auf, die
jenen entstammen. Sodann eröffnet sich das Kampffeld, die Parteien
der Geschichte ringen mit einander um den Sieg ihres Glaubens,
um die Weltherrschaft; und zum Schluß, nachdem die empörten Ele¬
mente sich ausgewüthet, blicken wir zurück und stehen vor der Frage:
Was ist das Ziel dieser Begebenheiten, welchen Sinn und Bezug
haben sie für uns?

Begleiten wir den Dichter durch sein Werk, welches, aus dieser
Angabe schon, sich als ein Ganzes, dem Inhalt und der Tendenz
nach, ausweist.

Verfolgen wir zuerst die Dialektik, welche die Gegensätze an
einander hält, die durch das Gedicht, bis auf den Hochpunkt dessel¬
ben, fortlaufen und wachsen. Im ersten Abschnitt, "Nachtgesang"
überschrieben, läßt der Dichter zwei Stimmen relen, welche die strei¬
tenden Principe vorstellen. Die erste Stimme mahnt von Haß und
Kampf ab; der Natur, dem wilden Geist, dem die reißenden Thiere
angehören, soll der Mensch sich nicht ergeben; die Natur ist abge¬
fallen, nur Gott kann sie erlösen:

"Weltbcfreien kann die Liebe nur,
Nicht der Haß, der Sklave der Natur . . ."
"Dort sieh' Golgatha! Jehovahs Stunden,
Heil'gar Konigstigerö, sind verwunden!"

Nun begreifen wir jedoch nicht, wie diesen Stimmen zugleich der
pantheistisch rohe Zuruf beigelegt werden kann:

"Wenn der Tiger schlau im Dickicht lauscht,
Vorspringt und ein Menschenbild zerreißt,
Blut trinkt, hat er sich in Gottes Geist,
Den spüret, ahnungsvoll berauscht."

gelegt, die ihm selber die heiligsten sind, seinen Glauben an die Ge¬
schichte, ein den Fortschritt nach dem Ziel, dem freien Geiste; und
luerin eben liegt die volle Wirkung, die Einigung des Gedichtes
mit der jetzigen Welt, wie diese im Dichter sich abspiegelt.

Man kann das Gedicht in drei Hauptmassen abtheilen, ohne
daß diese jedoch äußerlich eine strenge Scheidung zuließen. Der
Dichter führt uns zuerst in die Stimmung, in die geistige Atmo¬
sphäre der Zeit; aber diesem historischen Geist kommt sein eigener
entgegen, in ihm selber tauchen die Ideen und Widersprüche auf, die
jenen entstammen. Sodann eröffnet sich das Kampffeld, die Parteien
der Geschichte ringen mit einander um den Sieg ihres Glaubens,
um die Weltherrschaft; und zum Schluß, nachdem die empörten Ele¬
mente sich ausgewüthet, blicken wir zurück und stehen vor der Frage:
Was ist das Ziel dieser Begebenheiten, welchen Sinn und Bezug
haben sie für uns?

Begleiten wir den Dichter durch sein Werk, welches, aus dieser
Angabe schon, sich als ein Ganzes, dem Inhalt und der Tendenz
nach, ausweist.

Verfolgen wir zuerst die Dialektik, welche die Gegensätze an
einander hält, die durch das Gedicht, bis auf den Hochpunkt dessel¬
ben, fortlaufen und wachsen. Im ersten Abschnitt, „Nachtgesang"
überschrieben, läßt der Dichter zwei Stimmen relen, welche die strei¬
tenden Principe vorstellen. Die erste Stimme mahnt von Haß und
Kampf ab; der Natur, dem wilden Geist, dem die reißenden Thiere
angehören, soll der Mensch sich nicht ergeben; die Natur ist abge¬
fallen, nur Gott kann sie erlösen:

„Weltbcfreien kann die Liebe nur,
Nicht der Haß, der Sklave der Natur . . ."
„Dort sieh' Golgatha! Jehovahs Stunden,
Heil'gar Konigstigerö, sind verwunden!"

Nun begreifen wir jedoch nicht, wie diesen Stimmen zugleich der
pantheistisch rohe Zuruf beigelegt werden kann:

„Wenn der Tiger schlau im Dickicht lauscht,
Vorspringt und ein Menschenbild zerreißt,
Blut trinkt, hat er sich in Gottes Geist,
Den spüret, ahnungsvoll berauscht."

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[0427] gelegt, die ihm selber die heiligsten sind, seinen Glauben an die Ge¬ schichte, ein den Fortschritt nach dem Ziel, dem freien Geiste; und luerin eben liegt die volle Wirkung, die Einigung des Gedichtes mit der jetzigen Welt, wie diese im Dichter sich abspiegelt. Man kann das Gedicht in drei Hauptmassen abtheilen, ohne daß diese jedoch äußerlich eine strenge Scheidung zuließen. Der Dichter führt uns zuerst in die Stimmung, in die geistige Atmo¬ sphäre der Zeit; aber diesem historischen Geist kommt sein eigener entgegen, in ihm selber tauchen die Ideen und Widersprüche auf, die jenen entstammen. Sodann eröffnet sich das Kampffeld, die Parteien der Geschichte ringen mit einander um den Sieg ihres Glaubens, um die Weltherrschaft; und zum Schluß, nachdem die empörten Ele¬ mente sich ausgewüthet, blicken wir zurück und stehen vor der Frage: Was ist das Ziel dieser Begebenheiten, welchen Sinn und Bezug haben sie für uns? Begleiten wir den Dichter durch sein Werk, welches, aus dieser Angabe schon, sich als ein Ganzes, dem Inhalt und der Tendenz nach, ausweist. Verfolgen wir zuerst die Dialektik, welche die Gegensätze an einander hält, die durch das Gedicht, bis auf den Hochpunkt dessel¬ ben, fortlaufen und wachsen. Im ersten Abschnitt, „Nachtgesang" überschrieben, läßt der Dichter zwei Stimmen relen, welche die strei¬ tenden Principe vorstellen. Die erste Stimme mahnt von Haß und Kampf ab; der Natur, dem wilden Geist, dem die reißenden Thiere angehören, soll der Mensch sich nicht ergeben; die Natur ist abge¬ fallen, nur Gott kann sie erlösen: „Weltbcfreien kann die Liebe nur, Nicht der Haß, der Sklave der Natur . . ." „Dort sieh' Golgatha! Jehovahs Stunden, Heil'gar Konigstigerö, sind verwunden!" Nun begreifen wir jedoch nicht, wie diesen Stimmen zugleich der pantheistisch rohe Zuruf beigelegt werden kann: „Wenn der Tiger schlau im Dickicht lauscht, Vorspringt und ein Menschenbild zerreißt, Blut trinkt, hat er sich in Gottes Geist, Den spüret, ahnungsvoll berauscht."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/427>, abgerufen am 26.08.2024.