Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

zen und Gesängen geschieht, womit man alle Jahr ganze Bände
anfüllt; hier fühlen und sehen wir eine entschwundene Zeit wiederum
als eine wirkliche, als eine gegenwärtige, mit welcher der Sänger
sich innerlich identificirt hat, und der er in allen Theilen den Stem¬
pel seiner Anschauungs- und Gemüthsweise aufgeprägt hat. Nicht
eine Reihe proper^alischer Lieder, von Liebe, Wein, Witz und
Abenteuern überströmend, dürfen wir hier erwarten, nicht den Frühling
schweigender Dichtung, auch nicht den Spott, der in Reimen sich an
einer Zeit voll Widersprüche rächt; wir athmen durch das ganze Ge¬
dicht hin, in einer ängstlich schweren, in Stürmen aufbrausenden
Luft, ungeheure geistige Gegensätze, gleich denen, worin Byron's
Saiten erzitterten, unbegriffenes Sehnen uno Regen, Aneinanderschla-
gen der höchsten Mächte deS menschlichen Daseins, Fehl und Schuld,
wie Recht und Ziel auf beiden Seiten bringen uns die großen
Räthsel der Geschichte und Menschheit recht nahe, und lassen uns
mit bangen Zweifeln dem Fluge des Gesanges folgen. Ueberall
stoßen wir auf die Frage: wozu daS Alles, diese Opfer, diese Blut¬
ströme, diese zerstörten Herzen, diese furchtbaren Irrthümer, dieses
Ringen zweier Mächte, von denen keine uns ganz für sich gewinnen
kann, von denen die eine durch starres Gesetz , durch erdrückenden
Zwang, die andere durch Wildheit, Schwanken und Frevel erschreckt I
In schneller Folge tauchen die Bilder jener Zeit vor uns aus; der
Dichter hebt immer nur die Entscheidungsmomente heraus, er erspart
uns den Verlauf im Kleinen; es sind, wie im Cid, wie hie und da
im Byron, aphoristische Zeichnungen, einzelne aus dem Herzen der
Geschichte anschlagende Klänge, aber in jedem Klänge schwingt der
ganze zerreißende Schmerz der Zeit mit. Der Dichter macht sich
nicht zum Erzähler, der That und Schicksal auseinander an einem
fortlaufenden Faden aufreibt; er spricht, selbst in den individuellsten
Schilderungen, immer den Geist uno Trieb und die Gewalten aus,
welche jenes Jahrhundert bewegten. Und doch bilden diese Balla¬
den, diese Ergüsse aus der eigenen Brust, dies Mitgefühl an dem
Geschehen, ein vollkommenes Gemälde, welches uns tiefer in das
Wesen jener elementarisch aufgeregten Periode einweiht, als eine mi¬
kroskopisch ausgeführte Novelle oder die Aengstlichkeit einer Chronik.
Aber in diesem kleinen Rahmen hat der Dichter einen bedeutenden
eigenen Lebensgehalt eingeschlossen, er hat darin Gedanken nieder-


zen und Gesängen geschieht, womit man alle Jahr ganze Bände
anfüllt; hier fühlen und sehen wir eine entschwundene Zeit wiederum
als eine wirkliche, als eine gegenwärtige, mit welcher der Sänger
sich innerlich identificirt hat, und der er in allen Theilen den Stem¬
pel seiner Anschauungs- und Gemüthsweise aufgeprägt hat. Nicht
eine Reihe proper^alischer Lieder, von Liebe, Wein, Witz und
Abenteuern überströmend, dürfen wir hier erwarten, nicht den Frühling
schweigender Dichtung, auch nicht den Spott, der in Reimen sich an
einer Zeit voll Widersprüche rächt; wir athmen durch das ganze Ge¬
dicht hin, in einer ängstlich schweren, in Stürmen aufbrausenden
Luft, ungeheure geistige Gegensätze, gleich denen, worin Byron's
Saiten erzitterten, unbegriffenes Sehnen uno Regen, Aneinanderschla-
gen der höchsten Mächte deS menschlichen Daseins, Fehl und Schuld,
wie Recht und Ziel auf beiden Seiten bringen uns die großen
Räthsel der Geschichte und Menschheit recht nahe, und lassen uns
mit bangen Zweifeln dem Fluge des Gesanges folgen. Ueberall
stoßen wir auf die Frage: wozu daS Alles, diese Opfer, diese Blut¬
ströme, diese zerstörten Herzen, diese furchtbaren Irrthümer, dieses
Ringen zweier Mächte, von denen keine uns ganz für sich gewinnen
kann, von denen die eine durch starres Gesetz , durch erdrückenden
Zwang, die andere durch Wildheit, Schwanken und Frevel erschreckt I
In schneller Folge tauchen die Bilder jener Zeit vor uns aus; der
Dichter hebt immer nur die Entscheidungsmomente heraus, er erspart
uns den Verlauf im Kleinen; es sind, wie im Cid, wie hie und da
im Byron, aphoristische Zeichnungen, einzelne aus dem Herzen der
Geschichte anschlagende Klänge, aber in jedem Klänge schwingt der
ganze zerreißende Schmerz der Zeit mit. Der Dichter macht sich
nicht zum Erzähler, der That und Schicksal auseinander an einem
fortlaufenden Faden aufreibt; er spricht, selbst in den individuellsten
Schilderungen, immer den Geist uno Trieb und die Gewalten aus,
welche jenes Jahrhundert bewegten. Und doch bilden diese Balla¬
den, diese Ergüsse aus der eigenen Brust, dies Mitgefühl an dem
Geschehen, ein vollkommenes Gemälde, welches uns tiefer in das
Wesen jener elementarisch aufgeregten Periode einweiht, als eine mi¬
kroskopisch ausgeführte Novelle oder die Aengstlichkeit einer Chronik.
Aber in diesem kleinen Rahmen hat der Dichter einen bedeutenden
eigenen Lebensgehalt eingeschlossen, er hat darin Gedanken nieder-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0426" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/267043"/>
            <p xml:id="ID_1184" prev="#ID_1183" next="#ID_1185"> zen und Gesängen geschieht, womit man alle Jahr ganze Bände<lb/>
anfüllt; hier fühlen und sehen wir eine entschwundene Zeit wiederum<lb/>
als eine wirkliche, als eine gegenwärtige, mit welcher der Sänger<lb/>
sich innerlich identificirt hat, und der er in allen Theilen den Stem¬<lb/>
pel seiner Anschauungs- und Gemüthsweise aufgeprägt hat. Nicht<lb/>
eine Reihe proper^alischer Lieder, von Liebe, Wein, Witz und<lb/>
Abenteuern überströmend, dürfen wir hier erwarten, nicht den Frühling<lb/>
schweigender Dichtung, auch nicht den Spott, der in Reimen sich an<lb/>
einer Zeit voll Widersprüche rächt; wir athmen durch das ganze Ge¬<lb/>
dicht hin, in einer ängstlich schweren, in Stürmen aufbrausenden<lb/>
Luft, ungeheure geistige Gegensätze, gleich denen, worin Byron's<lb/>
Saiten erzitterten, unbegriffenes Sehnen uno Regen, Aneinanderschla-<lb/>
gen der höchsten Mächte deS menschlichen Daseins, Fehl und Schuld,<lb/>
wie Recht und Ziel auf beiden Seiten bringen uns die großen<lb/>
Räthsel der Geschichte und Menschheit recht nahe, und lassen uns<lb/>
mit bangen Zweifeln dem Fluge des Gesanges folgen. Ueberall<lb/>
stoßen wir auf die Frage: wozu daS Alles, diese Opfer, diese Blut¬<lb/>
ströme, diese zerstörten Herzen, diese furchtbaren Irrthümer, dieses<lb/>
Ringen zweier Mächte, von denen keine uns ganz für sich gewinnen<lb/>
kann, von denen die eine durch starres Gesetz , durch erdrückenden<lb/>
Zwang, die andere durch Wildheit, Schwanken und Frevel erschreckt I<lb/>
In schneller Folge tauchen die Bilder jener Zeit vor uns aus; der<lb/>
Dichter hebt immer nur die Entscheidungsmomente heraus, er erspart<lb/>
uns den Verlauf im Kleinen; es sind, wie im Cid, wie hie und da<lb/>
im Byron, aphoristische Zeichnungen, einzelne aus dem Herzen der<lb/>
Geschichte anschlagende Klänge, aber in jedem Klänge schwingt der<lb/>
ganze zerreißende Schmerz der Zeit mit. Der Dichter macht sich<lb/>
nicht zum Erzähler, der That und Schicksal auseinander an einem<lb/>
fortlaufenden Faden aufreibt; er spricht, selbst in den individuellsten<lb/>
Schilderungen, immer den Geist uno Trieb und die Gewalten aus,<lb/>
welche jenes Jahrhundert bewegten. Und doch bilden diese Balla¬<lb/>
den, diese Ergüsse aus der eigenen Brust, dies Mitgefühl an dem<lb/>
Geschehen, ein vollkommenes Gemälde, welches uns tiefer in das<lb/>
Wesen jener elementarisch aufgeregten Periode einweiht, als eine mi¬<lb/>
kroskopisch ausgeführte Novelle oder die Aengstlichkeit einer Chronik.<lb/>
Aber in diesem kleinen Rahmen hat der Dichter einen bedeutenden<lb/>
eigenen Lebensgehalt eingeschlossen, er hat darin Gedanken nieder-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0426] zen und Gesängen geschieht, womit man alle Jahr ganze Bände anfüllt; hier fühlen und sehen wir eine entschwundene Zeit wiederum als eine wirkliche, als eine gegenwärtige, mit welcher der Sänger sich innerlich identificirt hat, und der er in allen Theilen den Stem¬ pel seiner Anschauungs- und Gemüthsweise aufgeprägt hat. Nicht eine Reihe proper^alischer Lieder, von Liebe, Wein, Witz und Abenteuern überströmend, dürfen wir hier erwarten, nicht den Frühling schweigender Dichtung, auch nicht den Spott, der in Reimen sich an einer Zeit voll Widersprüche rächt; wir athmen durch das ganze Ge¬ dicht hin, in einer ängstlich schweren, in Stürmen aufbrausenden Luft, ungeheure geistige Gegensätze, gleich denen, worin Byron's Saiten erzitterten, unbegriffenes Sehnen uno Regen, Aneinanderschla- gen der höchsten Mächte deS menschlichen Daseins, Fehl und Schuld, wie Recht und Ziel auf beiden Seiten bringen uns die großen Räthsel der Geschichte und Menschheit recht nahe, und lassen uns mit bangen Zweifeln dem Fluge des Gesanges folgen. Ueberall stoßen wir auf die Frage: wozu daS Alles, diese Opfer, diese Blut¬ ströme, diese zerstörten Herzen, diese furchtbaren Irrthümer, dieses Ringen zweier Mächte, von denen keine uns ganz für sich gewinnen kann, von denen die eine durch starres Gesetz , durch erdrückenden Zwang, die andere durch Wildheit, Schwanken und Frevel erschreckt I In schneller Folge tauchen die Bilder jener Zeit vor uns aus; der Dichter hebt immer nur die Entscheidungsmomente heraus, er erspart uns den Verlauf im Kleinen; es sind, wie im Cid, wie hie und da im Byron, aphoristische Zeichnungen, einzelne aus dem Herzen der Geschichte anschlagende Klänge, aber in jedem Klänge schwingt der ganze zerreißende Schmerz der Zeit mit. Der Dichter macht sich nicht zum Erzähler, der That und Schicksal auseinander an einem fortlaufenden Faden aufreibt; er spricht, selbst in den individuellsten Schilderungen, immer den Geist uno Trieb und die Gewalten aus, welche jenes Jahrhundert bewegten. Und doch bilden diese Balla¬ den, diese Ergüsse aus der eigenen Brust, dies Mitgefühl an dem Geschehen, ein vollkommenes Gemälde, welches uns tiefer in das Wesen jener elementarisch aufgeregten Periode einweiht, als eine mi¬ kroskopisch ausgeführte Novelle oder die Aengstlichkeit einer Chronik. Aber in diesem kleinen Rahmen hat der Dichter einen bedeutenden eigenen Lebensgehalt eingeschlossen, er hat darin Gedanken nieder-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/426
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/426>, abgerufen am 26.08.2024.