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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Beim Eingang freilich stieß uns daS Fremdartige, das Gesuchte
des ersten Gedichts, die harte, herbe, gegen die Welt entrüstete Stim¬
mung des Dichters ab' die sich in den sonderbarsten Ausdrücken Lust
macht. Wir sahen in dem unermüdlichen Ausspinnen einer und der¬
selben Figur, daß der Dichter, wie auch sonst in einzelnen Stellen
seines Werkes, hier mehr im Bilde als in der Sache verweilte. Wie
mochte nur der Verfasser so lange an dem seltsamen Bilde hasten,
wo er sich einen Tiger zum Schuhgenossen wünscht, damit ihm der
seine Gedanken bewache und alle Erdenwünsche und Erinnerungen
zerreiße; wo er denselben Tiger dann aufsetzt:

"send ich ein Lied auf die Tyranncnfratzen,
So helf ihm, Tiger, nach mit deinen Tatzen."

Hier, wie bei den Worten:

"O Welt, ans allen Wüsten möcht ich holen
Die Tigergeister dir zu Apostolen,"

so wie bei der grimmigen Begeisterung:

"Ich wünschte mir den Tiger zum Genossen,
Schon ist in meinem Geist sein Hauch zu spüren,
Und durch mein Herz sein wildes Blut ergossen."

kann ein unverdorbener Geschmack sich nur abkehren; für einen na¬
türlichen, dichterischen Erguß vermögen wir das nicht anzusehen,
obschon wir begreifen, wie ein Poet sich in dergleichen Phrasenpathos
verirren kann, nicht unter der Gunst der Muse, sondern


"Wenn sein einsames Herz Gedanken hämmert."

Indeß wird der Leser, wenn er die anfangs störenden Ei¬
genheiten des Gefühls und der Ausdrucksweise überwunden hat,
sich bald mit dem Gedicht befreunden, uno gern bei den Gebil¬
den verweilen, die des Dichters kühner, freier Geist an ihm
vorüberführt. Und doch wird ihn weniger die meisterhafte Aus¬
malung einzelner Situationen fesseln, die Lebendigkeit individueller
Momente, die mit den Erscheinungen der wirklichen Welt wetteifert,
als die tiefe Vertrautheit mit dem Geist und Charakter des histori¬
schen Gehaltes, dies Schaffen aus eigener Brust, das eine vergan¬
gene Zeit neu und lebendig zum Vorschein bringt. Hier ist keine
Bearbeitung äußerer Stoffe, kein Formiren eines todten Materials
nach gegebenen Regeln, hier wird nicht erstarrte Geschichte auf die
rauschende, seelenlose Leier gespannt, wie dies in unzähligen Roman-


Beim Eingang freilich stieß uns daS Fremdartige, das Gesuchte
des ersten Gedichts, die harte, herbe, gegen die Welt entrüstete Stim¬
mung des Dichters ab' die sich in den sonderbarsten Ausdrücken Lust
macht. Wir sahen in dem unermüdlichen Ausspinnen einer und der¬
selben Figur, daß der Dichter, wie auch sonst in einzelnen Stellen
seines Werkes, hier mehr im Bilde als in der Sache verweilte. Wie
mochte nur der Verfasser so lange an dem seltsamen Bilde hasten,
wo er sich einen Tiger zum Schuhgenossen wünscht, damit ihm der
seine Gedanken bewache und alle Erdenwünsche und Erinnerungen
zerreiße; wo er denselben Tiger dann aufsetzt:

„send ich ein Lied auf die Tyranncnfratzen,
So helf ihm, Tiger, nach mit deinen Tatzen."

Hier, wie bei den Worten:

„O Welt, ans allen Wüsten möcht ich holen
Die Tigergeister dir zu Apostolen,"

so wie bei der grimmigen Begeisterung:

„Ich wünschte mir den Tiger zum Genossen,
Schon ist in meinem Geist sein Hauch zu spüren,
Und durch mein Herz sein wildes Blut ergossen."

kann ein unverdorbener Geschmack sich nur abkehren; für einen na¬
türlichen, dichterischen Erguß vermögen wir das nicht anzusehen,
obschon wir begreifen, wie ein Poet sich in dergleichen Phrasenpathos
verirren kann, nicht unter der Gunst der Muse, sondern


„Wenn sein einsames Herz Gedanken hämmert."

Indeß wird der Leser, wenn er die anfangs störenden Ei¬
genheiten des Gefühls und der Ausdrucksweise überwunden hat,
sich bald mit dem Gedicht befreunden, uno gern bei den Gebil¬
den verweilen, die des Dichters kühner, freier Geist an ihm
vorüberführt. Und doch wird ihn weniger die meisterhafte Aus¬
malung einzelner Situationen fesseln, die Lebendigkeit individueller
Momente, die mit den Erscheinungen der wirklichen Welt wetteifert,
als die tiefe Vertrautheit mit dem Geist und Charakter des histori¬
schen Gehaltes, dies Schaffen aus eigener Brust, das eine vergan¬
gene Zeit neu und lebendig zum Vorschein bringt. Hier ist keine
Bearbeitung äußerer Stoffe, kein Formiren eines todten Materials
nach gegebenen Regeln, hier wird nicht erstarrte Geschichte auf die
rauschende, seelenlose Leier gespannt, wie dies in unzähligen Roman-


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[0425] Beim Eingang freilich stieß uns daS Fremdartige, das Gesuchte des ersten Gedichts, die harte, herbe, gegen die Welt entrüstete Stim¬ mung des Dichters ab' die sich in den sonderbarsten Ausdrücken Lust macht. Wir sahen in dem unermüdlichen Ausspinnen einer und der¬ selben Figur, daß der Dichter, wie auch sonst in einzelnen Stellen seines Werkes, hier mehr im Bilde als in der Sache verweilte. Wie mochte nur der Verfasser so lange an dem seltsamen Bilde hasten, wo er sich einen Tiger zum Schuhgenossen wünscht, damit ihm der seine Gedanken bewache und alle Erdenwünsche und Erinnerungen zerreiße; wo er denselben Tiger dann aufsetzt: „send ich ein Lied auf die Tyranncnfratzen, So helf ihm, Tiger, nach mit deinen Tatzen." Hier, wie bei den Worten: „O Welt, ans allen Wüsten möcht ich holen Die Tigergeister dir zu Apostolen," so wie bei der grimmigen Begeisterung: „Ich wünschte mir den Tiger zum Genossen, Schon ist in meinem Geist sein Hauch zu spüren, Und durch mein Herz sein wildes Blut ergossen." kann ein unverdorbener Geschmack sich nur abkehren; für einen na¬ türlichen, dichterischen Erguß vermögen wir das nicht anzusehen, obschon wir begreifen, wie ein Poet sich in dergleichen Phrasenpathos verirren kann, nicht unter der Gunst der Muse, sondern „Wenn sein einsames Herz Gedanken hämmert." Indeß wird der Leser, wenn er die anfangs störenden Ei¬ genheiten des Gefühls und der Ausdrucksweise überwunden hat, sich bald mit dem Gedicht befreunden, uno gern bei den Gebil¬ den verweilen, die des Dichters kühner, freier Geist an ihm vorüberführt. Und doch wird ihn weniger die meisterhafte Aus¬ malung einzelner Situationen fesseln, die Lebendigkeit individueller Momente, die mit den Erscheinungen der wirklichen Welt wetteifert, als die tiefe Vertrautheit mit dem Geist und Charakter des histori¬ schen Gehaltes, dies Schaffen aus eigener Brust, das eine vergan¬ gene Zeit neu und lebendig zum Vorschein bringt. Hier ist keine Bearbeitung äußerer Stoffe, kein Formiren eines todten Materials nach gegebenen Regeln, hier wird nicht erstarrte Geschichte auf die rauschende, seelenlose Leier gespannt, wie dies in unzähligen Roman-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/425>, abgerufen am 23.07.2024.