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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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schen Talents, damit das Denken, die bewußte Tendenz dieser höchsten
Form, der Dichtung gewachsen sei. Wir haben dafür nur im
Lessingschen Nathan, ein unübertroffenes Beispiel.

Wir unsrerseits wollen eS keineswegs tadeln, wenn unsere Dich¬
ter den nächsten Interessen, den allgemeinen Fragen der Zeit sich zu¬
wenden; nicht als glaubten wir, es läge darin die eigentliche Auf¬
gabe der Dichtkunst, als fände sie darin ihre weiteste Wirksamkeit,
sondern vielmehr, weil die Fragen, die jetzt unsere öffentliche Welt
in Athem halten, selbst auf Ideen und Weltanschauungen hindrän¬
gen, welche die dichterische Behandlung erfordern und begünstigen.
Der Streit zwischen Gedanken und Satzung, in dem meist Lessing
seine Waffe erhob, der Kampf zwischen Freiheit und Willkürzwang,
aus dem Schiller'S Genius sich emporarbeitete, gährt auch in der
heutigen Generation, ..und sie läßt es sich nicht verwehren, diesen
Krieg, wie sie ihn Jeder'Äüfzufassen vermag, in allen Weisen aus¬
zukämpfen und auSzusingen. Ueberall sei uns darum eine Tendenz
in der Poesie willkommen, wo sie das Haupt der Zeit trifft, wo sie
in bedeutenden Massen die geistigen Gewalten des Jahrhunderts
gegen einander spielen läßt.

Voll Erwartung gingen wir an die Lectüre deS vorliegenden
Gedichtes, das schon seit Jahren den Freunden der Lenau'schen Muse
versprochen war. Der Stoff desselben ist an sich so großartig, so
gedrängt voll erschütternder Momente, er ist zugleich so geistig und
so voll Leidenschaft und Begebenheit, daß wir die Zeit nicht bevauer-
ten, in der das verheißene Werk reifen sollte. Der Kampf der Al-
bigenser--denn unter diesem Namen faßte man die mancherlei häre¬
tischen Secten jener Zeiten zusammen -- gegen die päpstliche Hier¬
archie, ein Kampf, angefacht durch die radikalsten Doctrinen, welche
das Mittelalter erzeugt hat, gegen die auf dem Wendepunkt ihrer
Allherrschaft schwebende römische Kirche, ein Kampf voll Heldenmuth)
und Grausamkeit, voll Glauben und Rohheit, ein offener Kreuzzug
im Herzen der Christenheit, gewiß, eS war ein echt dichterischer
Entschluß, den zu besingen. Und so ist auch das Werk, eine Reihe
von Balladen, mit Lyrik umwoben, mit Bildern aus des Dichters
eigenem Innern verschmolzen, eine wahrhafte Dichtung, von einem
starken, seiner selbst gewissen, männlichen Geist durchweht, voll Natur,
Willen und Erfindung.


schen Talents, damit das Denken, die bewußte Tendenz dieser höchsten
Form, der Dichtung gewachsen sei. Wir haben dafür nur im
Lessingschen Nathan, ein unübertroffenes Beispiel.

Wir unsrerseits wollen eS keineswegs tadeln, wenn unsere Dich¬
ter den nächsten Interessen, den allgemeinen Fragen der Zeit sich zu¬
wenden; nicht als glaubten wir, es läge darin die eigentliche Auf¬
gabe der Dichtkunst, als fände sie darin ihre weiteste Wirksamkeit,
sondern vielmehr, weil die Fragen, die jetzt unsere öffentliche Welt
in Athem halten, selbst auf Ideen und Weltanschauungen hindrän¬
gen, welche die dichterische Behandlung erfordern und begünstigen.
Der Streit zwischen Gedanken und Satzung, in dem meist Lessing
seine Waffe erhob, der Kampf zwischen Freiheit und Willkürzwang,
aus dem Schiller'S Genius sich emporarbeitete, gährt auch in der
heutigen Generation, ..und sie läßt es sich nicht verwehren, diesen
Krieg, wie sie ihn Jeder'Äüfzufassen vermag, in allen Weisen aus¬
zukämpfen und auSzusingen. Ueberall sei uns darum eine Tendenz
in der Poesie willkommen, wo sie das Haupt der Zeit trifft, wo sie
in bedeutenden Massen die geistigen Gewalten des Jahrhunderts
gegen einander spielen läßt.

Voll Erwartung gingen wir an die Lectüre deS vorliegenden
Gedichtes, das schon seit Jahren den Freunden der Lenau'schen Muse
versprochen war. Der Stoff desselben ist an sich so großartig, so
gedrängt voll erschütternder Momente, er ist zugleich so geistig und
so voll Leidenschaft und Begebenheit, daß wir die Zeit nicht bevauer-
ten, in der das verheißene Werk reifen sollte. Der Kampf der Al-
bigenser—denn unter diesem Namen faßte man die mancherlei häre¬
tischen Secten jener Zeiten zusammen — gegen die päpstliche Hier¬
archie, ein Kampf, angefacht durch die radikalsten Doctrinen, welche
das Mittelalter erzeugt hat, gegen die auf dem Wendepunkt ihrer
Allherrschaft schwebende römische Kirche, ein Kampf voll Heldenmuth)
und Grausamkeit, voll Glauben und Rohheit, ein offener Kreuzzug
im Herzen der Christenheit, gewiß, eS war ein echt dichterischer
Entschluß, den zu besingen. Und so ist auch das Werk, eine Reihe
von Balladen, mit Lyrik umwoben, mit Bildern aus des Dichters
eigenem Innern verschmolzen, eine wahrhafte Dichtung, von einem
starken, seiner selbst gewissen, männlichen Geist durchweht, voll Natur,
Willen und Erfindung.


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[0424] schen Talents, damit das Denken, die bewußte Tendenz dieser höchsten Form, der Dichtung gewachsen sei. Wir haben dafür nur im Lessingschen Nathan, ein unübertroffenes Beispiel. Wir unsrerseits wollen eS keineswegs tadeln, wenn unsere Dich¬ ter den nächsten Interessen, den allgemeinen Fragen der Zeit sich zu¬ wenden; nicht als glaubten wir, es läge darin die eigentliche Auf¬ gabe der Dichtkunst, als fände sie darin ihre weiteste Wirksamkeit, sondern vielmehr, weil die Fragen, die jetzt unsere öffentliche Welt in Athem halten, selbst auf Ideen und Weltanschauungen hindrän¬ gen, welche die dichterische Behandlung erfordern und begünstigen. Der Streit zwischen Gedanken und Satzung, in dem meist Lessing seine Waffe erhob, der Kampf zwischen Freiheit und Willkürzwang, aus dem Schiller'S Genius sich emporarbeitete, gährt auch in der heutigen Generation, ..und sie läßt es sich nicht verwehren, diesen Krieg, wie sie ihn Jeder'Äüfzufassen vermag, in allen Weisen aus¬ zukämpfen und auSzusingen. Ueberall sei uns darum eine Tendenz in der Poesie willkommen, wo sie das Haupt der Zeit trifft, wo sie in bedeutenden Massen die geistigen Gewalten des Jahrhunderts gegen einander spielen läßt. Voll Erwartung gingen wir an die Lectüre deS vorliegenden Gedichtes, das schon seit Jahren den Freunden der Lenau'schen Muse versprochen war. Der Stoff desselben ist an sich so großartig, so gedrängt voll erschütternder Momente, er ist zugleich so geistig und so voll Leidenschaft und Begebenheit, daß wir die Zeit nicht bevauer- ten, in der das verheißene Werk reifen sollte. Der Kampf der Al- bigenser—denn unter diesem Namen faßte man die mancherlei häre¬ tischen Secten jener Zeiten zusammen — gegen die päpstliche Hier¬ archie, ein Kampf, angefacht durch die radikalsten Doctrinen, welche das Mittelalter erzeugt hat, gegen die auf dem Wendepunkt ihrer Allherrschaft schwebende römische Kirche, ein Kampf voll Heldenmuth) und Grausamkeit, voll Glauben und Rohheit, ein offener Kreuzzug im Herzen der Christenheit, gewiß, eS war ein echt dichterischer Entschluß, den zu besingen. Und so ist auch das Werk, eine Reihe von Balladen, mit Lyrik umwoben, mit Bildern aus des Dichters eigenem Innern verschmolzen, eine wahrhafte Dichtung, von einem starken, seiner selbst gewissen, männlichen Geist durchweht, voll Natur, Willen und Erfindung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/424>, abgerufen am 23.07.2024.