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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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wir uns nicht täuschen, zwei Drittel der Höhe erreichen wird, welche
die Kirche vom Boden bis zum Gewölbe hat. Diese Thurmspitze,
der auf dem andern Pfeiler eine ganz gleiche gegenübersteht, wird
einer Bildsäule zur Nische dienen und an ihre Grundlage wird sich
die Treppe lehnen, die zu den zwei Chorstühlen einer jeden Seite
führt. Diese selbst werden, wie es Brauch ist, hoch genug stehen,
damit vor ihnen, auf einer niedrigen Fläche eine zweite Reihe Sitze
Platz finden kann. In der Verzierung dieser Chorstühle nun hat
Herr Geerts, Architekt und Bildhauer zu gleicher Zeit, allen Reich¬
thum seiner Einbildungskraft und seiner Erinnerungen entfaltet.
Die schönsten Arbeiten dieser Art, die wir bisher in Belgien besaßen,
bestehen ganz einfach in einer Verkleidung von Bas-Reliefs, die
sich über den Chorstühlen befinden und die fast immer durch Säulen
im Renaissance-Styl in Fächer abgetheilt ist, während sie unab¬
änderlich in einem Karnteß sich abschließt. Herr Geerts nun hat
diesen Weg gänzlich verlassen. Indem er sich an den Werken der
Bildhauerkunst, die im Brüsseler Museum sind, inspirirte, hat er
hinter den Chorstühlen eine wahre Mustersammlung aller Formen
der Spitzbogen-Architektur angebracht, und das nicht blos im Relief,
sondern in der Tiefe, dergestalt, daß die obere Linie von einer
Menge kleiner Glockentt)ürmchen spitzenartig durchbrochen ist, welche
von beiden Seiten der, wie wir schon beschrieben haben, an den
Pfeiler sich anlehnenden Haupt-Thurmspitze entsprechen. Diese go¬
thische Phantasie zeichnet sich aus durch eine wahrhaft bewunderungs¬
würdige Verschwendung von kleinen Säulen, Nischen und Figuren,
die überaus zart gearbeitet sind. Das Innere der Portale, welche
die kleinen Säulen bilden, nehmen Arbeiten ein, deren Modell in
Gyps man ebenfalls im Brüsseler Museum sehen kann, und
welche, was den schon vollendeten Theil betrifft, Mariä Verkündi¬
gung, Mariä Heimsuchung, die Anbetung der drei Könige aus dem
Morgenland, die Flucht nach Aegypten und die heilige Familie dar¬
stellen. In allen diesen Werken athmet ein durchaus bemerkens¬
werthes, gothisches Gefühl; man möchte sie fast für eine plastische
Übertragung der Gemälde Van Cyck's, Hemmelinck'S und Lucas
von Leyden halten. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die noch
unausgefüllten sieben Nischen der rechten und zwölf Nischen der
linken Seite eine Fortsetzung des Lebens Jesu Christi nach der


wir uns nicht täuschen, zwei Drittel der Höhe erreichen wird, welche
die Kirche vom Boden bis zum Gewölbe hat. Diese Thurmspitze,
der auf dem andern Pfeiler eine ganz gleiche gegenübersteht, wird
einer Bildsäule zur Nische dienen und an ihre Grundlage wird sich
die Treppe lehnen, die zu den zwei Chorstühlen einer jeden Seite
führt. Diese selbst werden, wie es Brauch ist, hoch genug stehen,
damit vor ihnen, auf einer niedrigen Fläche eine zweite Reihe Sitze
Platz finden kann. In der Verzierung dieser Chorstühle nun hat
Herr Geerts, Architekt und Bildhauer zu gleicher Zeit, allen Reich¬
thum seiner Einbildungskraft und seiner Erinnerungen entfaltet.
Die schönsten Arbeiten dieser Art, die wir bisher in Belgien besaßen,
bestehen ganz einfach in einer Verkleidung von Bas-Reliefs, die
sich über den Chorstühlen befinden und die fast immer durch Säulen
im Renaissance-Styl in Fächer abgetheilt ist, während sie unab¬
änderlich in einem Karnteß sich abschließt. Herr Geerts nun hat
diesen Weg gänzlich verlassen. Indem er sich an den Werken der
Bildhauerkunst, die im Brüsseler Museum sind, inspirirte, hat er
hinter den Chorstühlen eine wahre Mustersammlung aller Formen
der Spitzbogen-Architektur angebracht, und das nicht blos im Relief,
sondern in der Tiefe, dergestalt, daß die obere Linie von einer
Menge kleiner Glockentt)ürmchen spitzenartig durchbrochen ist, welche
von beiden Seiten der, wie wir schon beschrieben haben, an den
Pfeiler sich anlehnenden Haupt-Thurmspitze entsprechen. Diese go¬
thische Phantasie zeichnet sich aus durch eine wahrhaft bewunderungs¬
würdige Verschwendung von kleinen Säulen, Nischen und Figuren,
die überaus zart gearbeitet sind. Das Innere der Portale, welche
die kleinen Säulen bilden, nehmen Arbeiten ein, deren Modell in
Gyps man ebenfalls im Brüsseler Museum sehen kann, und
welche, was den schon vollendeten Theil betrifft, Mariä Verkündi¬
gung, Mariä Heimsuchung, die Anbetung der drei Könige aus dem
Morgenland, die Flucht nach Aegypten und die heilige Familie dar¬
stellen. In allen diesen Werken athmet ein durchaus bemerkens¬
werthes, gothisches Gefühl; man möchte sie fast für eine plastische
Übertragung der Gemälde Van Cyck's, Hemmelinck'S und Lucas
von Leyden halten. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die noch
unausgefüllten sieben Nischen der rechten und zwölf Nischen der
linken Seite eine Fortsetzung des Lebens Jesu Christi nach der


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[0411] wir uns nicht täuschen, zwei Drittel der Höhe erreichen wird, welche die Kirche vom Boden bis zum Gewölbe hat. Diese Thurmspitze, der auf dem andern Pfeiler eine ganz gleiche gegenübersteht, wird einer Bildsäule zur Nische dienen und an ihre Grundlage wird sich die Treppe lehnen, die zu den zwei Chorstühlen einer jeden Seite führt. Diese selbst werden, wie es Brauch ist, hoch genug stehen, damit vor ihnen, auf einer niedrigen Fläche eine zweite Reihe Sitze Platz finden kann. In der Verzierung dieser Chorstühle nun hat Herr Geerts, Architekt und Bildhauer zu gleicher Zeit, allen Reich¬ thum seiner Einbildungskraft und seiner Erinnerungen entfaltet. Die schönsten Arbeiten dieser Art, die wir bisher in Belgien besaßen, bestehen ganz einfach in einer Verkleidung von Bas-Reliefs, die sich über den Chorstühlen befinden und die fast immer durch Säulen im Renaissance-Styl in Fächer abgetheilt ist, während sie unab¬ änderlich in einem Karnteß sich abschließt. Herr Geerts nun hat diesen Weg gänzlich verlassen. Indem er sich an den Werken der Bildhauerkunst, die im Brüsseler Museum sind, inspirirte, hat er hinter den Chorstühlen eine wahre Mustersammlung aller Formen der Spitzbogen-Architektur angebracht, und das nicht blos im Relief, sondern in der Tiefe, dergestalt, daß die obere Linie von einer Menge kleiner Glockentt)ürmchen spitzenartig durchbrochen ist, welche von beiden Seiten der, wie wir schon beschrieben haben, an den Pfeiler sich anlehnenden Haupt-Thurmspitze entsprechen. Diese go¬ thische Phantasie zeichnet sich aus durch eine wahrhaft bewunderungs¬ würdige Verschwendung von kleinen Säulen, Nischen und Figuren, die überaus zart gearbeitet sind. Das Innere der Portale, welche die kleinen Säulen bilden, nehmen Arbeiten ein, deren Modell in Gyps man ebenfalls im Brüsseler Museum sehen kann, und welche, was den schon vollendeten Theil betrifft, Mariä Verkündi¬ gung, Mariä Heimsuchung, die Anbetung der drei Könige aus dem Morgenland, die Flucht nach Aegypten und die heilige Familie dar¬ stellen. In allen diesen Werken athmet ein durchaus bemerkens¬ werthes, gothisches Gefühl; man möchte sie fast für eine plastische Übertragung der Gemälde Van Cyck's, Hemmelinck'S und Lucas von Leyden halten. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die noch unausgefüllten sieben Nischen der rechten und zwölf Nischen der linken Seite eine Fortsetzung des Lebens Jesu Christi nach der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/411>, abgerufen am 26.08.2024.