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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Märchen erzählt; es läßt sich in aller Gemüthlichkeit von der Dich¬
tung des Poeten (ja, lacht nicht/ des Poeten; ich werde es Euch
gleich beweisen) fortreißen; es kritisirt nicht, sondern nimmt Alles
an, wenn man es nur amüsirt. Das ist das ächte, unverdorbene
Theaterpublikum, das alles Phantastische mit bewunderungswürdiger
Leichtigkeit begreift, das ohne allen Einwand Ludwig Tieck's "Ge¬
stiefelter Kater" oder "das kleine Nothkäppchen" oder jene funkeln¬
den Gozzi'schen Possen mit anhören würde, in denen die buntlappig
gekleidete, grimassenschneidcnde Welt der italienischen Charaktermas¬
ken mit den zauberhaftesten Feenwesen so seltsam gemischt ist. Wenn
es je möglich ist, gewisse Shakspeare'sche Stücke, wie den "Som-
mernachtstraum," den "Sturm," das "Wintermärchen" in Frankreich
zur Darstellung zu bringen, so wird es gewiß auf diesen armseligen,
wurmstichigen Brettern geschehen, und dieses zerlumpte Volk werden
die ersten Zuschauer sein, die es mit Liebe, ich mochte fast sagen,
mit Verständniß aufnehmen werden. Hätte Schreiber dieser Zeilen
die Ehre, ein großes Genie zu sein, so würde er den Versuch wagen,
für dieses verachtete Theater ein Stück zu schreiben. Aber eine solche
Kühnheit stände ihm übel an: höchstens könnten Dichter, wie Victor
Hugo, Alfred Musset und ähnliche, und das auch nur in ihren
besten Tagen, so etwas unternehmen. Wer ist denn nun aber, wird
man fragen, der oder die Verfasser, welche an diesen unerhörten
Meisterwerken arbeiten? Niemand kennt sie, Niemand weiß ihren
Namen, eben so wie man nicht weiß, wie die Dichter deS spanischen
Romancero, oder die Erbauer der mittelalterlichen gothischen Kathe¬
dralen geheißen haben. Der Verfasser-dieser wunderseltsamen Possen
.ist alle Welt; dieser große Dichter, dieses Collectivwesen, das mehr
Witz besitzt, als Voltaire, Beaumarchais und Byron; an dieser Art
von Stücken arbeiten Verfasser, Souffleur und besonders das Publi¬
kum zugleich, so ungefähr wie im Munde des Volkes Melodien
und Lieder unbekannter, namenloser Dichter und Komponisten leben,
die voll Fehler gegen Metrum und Reim und Musikgesetze sind und
die dennoch dermaßen die Verzweiflung großer Dichter und Kompo¬
nisten sind, daß sie für eine Strophe dieser unregelmäßigen Lie¬
der, für einen Satz in diesen Melodien ihre kostbarsten, gefeiltesten
Arbeiten o wie gern! hingeben möchten.

Vor etwa zehn Jahren war ein berühmter Hanswurst, Debureau,


Märchen erzählt; es läßt sich in aller Gemüthlichkeit von der Dich¬
tung des Poeten (ja, lacht nicht/ des Poeten; ich werde es Euch
gleich beweisen) fortreißen; es kritisirt nicht, sondern nimmt Alles
an, wenn man es nur amüsirt. Das ist das ächte, unverdorbene
Theaterpublikum, das alles Phantastische mit bewunderungswürdiger
Leichtigkeit begreift, das ohne allen Einwand Ludwig Tieck's „Ge¬
stiefelter Kater" oder „das kleine Nothkäppchen" oder jene funkeln¬
den Gozzi'schen Possen mit anhören würde, in denen die buntlappig
gekleidete, grimassenschneidcnde Welt der italienischen Charaktermas¬
ken mit den zauberhaftesten Feenwesen so seltsam gemischt ist. Wenn
es je möglich ist, gewisse Shakspeare'sche Stücke, wie den „Som-
mernachtstraum," den „Sturm," das „Wintermärchen" in Frankreich
zur Darstellung zu bringen, so wird es gewiß auf diesen armseligen,
wurmstichigen Brettern geschehen, und dieses zerlumpte Volk werden
die ersten Zuschauer sein, die es mit Liebe, ich mochte fast sagen,
mit Verständniß aufnehmen werden. Hätte Schreiber dieser Zeilen
die Ehre, ein großes Genie zu sein, so würde er den Versuch wagen,
für dieses verachtete Theater ein Stück zu schreiben. Aber eine solche
Kühnheit stände ihm übel an: höchstens könnten Dichter, wie Victor
Hugo, Alfred Musset und ähnliche, und das auch nur in ihren
besten Tagen, so etwas unternehmen. Wer ist denn nun aber, wird
man fragen, der oder die Verfasser, welche an diesen unerhörten
Meisterwerken arbeiten? Niemand kennt sie, Niemand weiß ihren
Namen, eben so wie man nicht weiß, wie die Dichter deS spanischen
Romancero, oder die Erbauer der mittelalterlichen gothischen Kathe¬
dralen geheißen haben. Der Verfasser-dieser wunderseltsamen Possen
.ist alle Welt; dieser große Dichter, dieses Collectivwesen, das mehr
Witz besitzt, als Voltaire, Beaumarchais und Byron; an dieser Art
von Stücken arbeiten Verfasser, Souffleur und besonders das Publi¬
kum zugleich, so ungefähr wie im Munde des Volkes Melodien
und Lieder unbekannter, namenloser Dichter und Komponisten leben,
die voll Fehler gegen Metrum und Reim und Musikgesetze sind und
die dennoch dermaßen die Verzweiflung großer Dichter und Kompo¬
nisten sind, daß sie für eine Strophe dieser unregelmäßigen Lie¬
der, für einen Satz in diesen Melodien ihre kostbarsten, gefeiltesten
Arbeiten o wie gern! hingeben möchten.

Vor etwa zehn Jahren war ein berühmter Hanswurst, Debureau,


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[0382] Märchen erzählt; es läßt sich in aller Gemüthlichkeit von der Dich¬ tung des Poeten (ja, lacht nicht/ des Poeten; ich werde es Euch gleich beweisen) fortreißen; es kritisirt nicht, sondern nimmt Alles an, wenn man es nur amüsirt. Das ist das ächte, unverdorbene Theaterpublikum, das alles Phantastische mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit begreift, das ohne allen Einwand Ludwig Tieck's „Ge¬ stiefelter Kater" oder „das kleine Nothkäppchen" oder jene funkeln¬ den Gozzi'schen Possen mit anhören würde, in denen die buntlappig gekleidete, grimassenschneidcnde Welt der italienischen Charaktermas¬ ken mit den zauberhaftesten Feenwesen so seltsam gemischt ist. Wenn es je möglich ist, gewisse Shakspeare'sche Stücke, wie den „Som- mernachtstraum," den „Sturm," das „Wintermärchen" in Frankreich zur Darstellung zu bringen, so wird es gewiß auf diesen armseligen, wurmstichigen Brettern geschehen, und dieses zerlumpte Volk werden die ersten Zuschauer sein, die es mit Liebe, ich mochte fast sagen, mit Verständniß aufnehmen werden. Hätte Schreiber dieser Zeilen die Ehre, ein großes Genie zu sein, so würde er den Versuch wagen, für dieses verachtete Theater ein Stück zu schreiben. Aber eine solche Kühnheit stände ihm übel an: höchstens könnten Dichter, wie Victor Hugo, Alfred Musset und ähnliche, und das auch nur in ihren besten Tagen, so etwas unternehmen. Wer ist denn nun aber, wird man fragen, der oder die Verfasser, welche an diesen unerhörten Meisterwerken arbeiten? Niemand kennt sie, Niemand weiß ihren Namen, eben so wie man nicht weiß, wie die Dichter deS spanischen Romancero, oder die Erbauer der mittelalterlichen gothischen Kathe¬ dralen geheißen haben. Der Verfasser-dieser wunderseltsamen Possen .ist alle Welt; dieser große Dichter, dieses Collectivwesen, das mehr Witz besitzt, als Voltaire, Beaumarchais und Byron; an dieser Art von Stücken arbeiten Verfasser, Souffleur und besonders das Publi¬ kum zugleich, so ungefähr wie im Munde des Volkes Melodien und Lieder unbekannter, namenloser Dichter und Komponisten leben, die voll Fehler gegen Metrum und Reim und Musikgesetze sind und die dennoch dermaßen die Verzweiflung großer Dichter und Kompo¬ nisten sind, daß sie für eine Strophe dieser unregelmäßigen Lie¬ der, für einen Satz in diesen Melodien ihre kostbarsten, gefeiltesten Arbeiten o wie gern! hingeben möchten. Vor etwa zehn Jahren war ein berühmter Hanswurst, Debureau,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/382>, abgerufen am 01.07.2024.