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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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neues Stück nicht niedergeschrieben, nicht entworfen, so ist es schon
in Deutschland von wenigstens drei Personen übersetzt.

Indem ich Sie, verehrter Leser, einlade, mir auf einer kleinen
Wanderung durch die Theater von Paris Gesellschaft zu leisten, will
ich keineswegs Ihren Cicerone durch die großen, goldnen Säle des
Theatre frainMs machen, durch die große Oper, durch das Vau-
deville und die Opora-comique; ich will nicht die Rolle eines Lohn¬
bedienten spielen, der, einen Gelehrten durch die Straßen der Stadt
führend, ihm erzäh/t, wer Karl der Große war, dessen Statue aus
dem Marktplatze steht, zu welcher Zeit Gustav Adolph lebte, der hier
in diesem Gasthofe eingekehrt, u. s. w. Nein, ich führe sie dorthin,
wo ich noch hoffen darf, Ihnen eine kleine, wenig bekannte Welt zu
zeigen, "dort, wo die letzten Häuser stehen," die letzten Schauspiel¬
häuser nämlich, auf dem entlegensten Ende der Boulevards. Die
Dramen, die auf dem Theatre des Funambules zur Darstellung
kommen, sind glücklicherweise noch nicht in's Deutsche übersetzt, aus
dem einzigen Grunde, weil dort Pierrot, Arlequin und Colum-
bine die einzigen drei Einheiten sind, welche bei der Conception die¬
ser Stücke in'ö Auge gefaßt werden. Wie heißen diese Stücke aber
auch! "Der wüthende Ochse," "Meine Mutter Gans." Und vollends
der Inhalt! Die Analyse meiner Mutter Gans hat Jules Janin
mehr Aufwand an Witz, Verstand und Styl gekostet, als sein
Bericht über alle Vaudevilles der Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft.

Welche Stücke! aber auch welches Theater und besonders, welche
Zuschauer! Da giebt es doch noch ein Publikum, das sich nicht
langweilt i da giebt es weder Stutzer in ihren mehr oder minder
gelben Handschuhen, noch kommen hierhin die Herren Feuilleton¬
schreiber, die abgenutzt, eckelsatt und blasirt, das Theater nur ox calli-
":in> besuchen, noch steht man die vornehmen Damen der Geburts-
und Geld-Aristokratie hier, die statt mit dem Stücke sich nur mit
ihren Prachtgewändern und kostbaren Blumensträußchen beschäftigen,
und nicht, um zu sehen, sondern um gesehen zu werden, in's Thea¬
ter kommen. Das Publikum dieses Theaters kommt in Jacken, in
Leinewandkitteln, in Hemdärmeln, oft auch ohne Hemde und mit
nackten Armen, mit der Mütze auf dem Kopfe: aber dafür ist es
auch unbefangen und naiv, wie ein Kind, dem man die ersten


neues Stück nicht niedergeschrieben, nicht entworfen, so ist es schon
in Deutschland von wenigstens drei Personen übersetzt.

Indem ich Sie, verehrter Leser, einlade, mir auf einer kleinen
Wanderung durch die Theater von Paris Gesellschaft zu leisten, will
ich keineswegs Ihren Cicerone durch die großen, goldnen Säle des
Theatre frainMs machen, durch die große Oper, durch das Vau-
deville und die Opora-comique; ich will nicht die Rolle eines Lohn¬
bedienten spielen, der, einen Gelehrten durch die Straßen der Stadt
führend, ihm erzäh/t, wer Karl der Große war, dessen Statue aus
dem Marktplatze steht, zu welcher Zeit Gustav Adolph lebte, der hier
in diesem Gasthofe eingekehrt, u. s. w. Nein, ich führe sie dorthin,
wo ich noch hoffen darf, Ihnen eine kleine, wenig bekannte Welt zu
zeigen, „dort, wo die letzten Häuser stehen," die letzten Schauspiel¬
häuser nämlich, auf dem entlegensten Ende der Boulevards. Die
Dramen, die auf dem Theatre des Funambules zur Darstellung
kommen, sind glücklicherweise noch nicht in's Deutsche übersetzt, aus
dem einzigen Grunde, weil dort Pierrot, Arlequin und Colum-
bine die einzigen drei Einheiten sind, welche bei der Conception die¬
ser Stücke in'ö Auge gefaßt werden. Wie heißen diese Stücke aber
auch! „Der wüthende Ochse," „Meine Mutter Gans." Und vollends
der Inhalt! Die Analyse meiner Mutter Gans hat Jules Janin
mehr Aufwand an Witz, Verstand und Styl gekostet, als sein
Bericht über alle Vaudevilles der Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft.

Welche Stücke! aber auch welches Theater und besonders, welche
Zuschauer! Da giebt es doch noch ein Publikum, das sich nicht
langweilt i da giebt es weder Stutzer in ihren mehr oder minder
gelben Handschuhen, noch kommen hierhin die Herren Feuilleton¬
schreiber, die abgenutzt, eckelsatt und blasirt, das Theater nur ox calli-
«:in> besuchen, noch steht man die vornehmen Damen der Geburts-
und Geld-Aristokratie hier, die statt mit dem Stücke sich nur mit
ihren Prachtgewändern und kostbaren Blumensträußchen beschäftigen,
und nicht, um zu sehen, sondern um gesehen zu werden, in's Thea¬
ter kommen. Das Publikum dieses Theaters kommt in Jacken, in
Leinewandkitteln, in Hemdärmeln, oft auch ohne Hemde und mit
nackten Armen, mit der Mütze auf dem Kopfe: aber dafür ist es
auch unbefangen und naiv, wie ein Kind, dem man die ersten


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[0381] neues Stück nicht niedergeschrieben, nicht entworfen, so ist es schon in Deutschland von wenigstens drei Personen übersetzt. Indem ich Sie, verehrter Leser, einlade, mir auf einer kleinen Wanderung durch die Theater von Paris Gesellschaft zu leisten, will ich keineswegs Ihren Cicerone durch die großen, goldnen Säle des Theatre frainMs machen, durch die große Oper, durch das Vau- deville und die Opora-comique; ich will nicht die Rolle eines Lohn¬ bedienten spielen, der, einen Gelehrten durch die Straßen der Stadt führend, ihm erzäh/t, wer Karl der Große war, dessen Statue aus dem Marktplatze steht, zu welcher Zeit Gustav Adolph lebte, der hier in diesem Gasthofe eingekehrt, u. s. w. Nein, ich führe sie dorthin, wo ich noch hoffen darf, Ihnen eine kleine, wenig bekannte Welt zu zeigen, „dort, wo die letzten Häuser stehen," die letzten Schauspiel¬ häuser nämlich, auf dem entlegensten Ende der Boulevards. Die Dramen, die auf dem Theatre des Funambules zur Darstellung kommen, sind glücklicherweise noch nicht in's Deutsche übersetzt, aus dem einzigen Grunde, weil dort Pierrot, Arlequin und Colum- bine die einzigen drei Einheiten sind, welche bei der Conception die¬ ser Stücke in'ö Auge gefaßt werden. Wie heißen diese Stücke aber auch! „Der wüthende Ochse," „Meine Mutter Gans." Und vollends der Inhalt! Die Analyse meiner Mutter Gans hat Jules Janin mehr Aufwand an Witz, Verstand und Styl gekostet, als sein Bericht über alle Vaudevilles der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Welche Stücke! aber auch welches Theater und besonders, welche Zuschauer! Da giebt es doch noch ein Publikum, das sich nicht langweilt i da giebt es weder Stutzer in ihren mehr oder minder gelben Handschuhen, noch kommen hierhin die Herren Feuilleton¬ schreiber, die abgenutzt, eckelsatt und blasirt, das Theater nur ox calli- «:in> besuchen, noch steht man die vornehmen Damen der Geburts- und Geld-Aristokratie hier, die statt mit dem Stücke sich nur mit ihren Prachtgewändern und kostbaren Blumensträußchen beschäftigen, und nicht, um zu sehen, sondern um gesehen zu werden, in's Thea¬ ter kommen. Das Publikum dieses Theaters kommt in Jacken, in Leinewandkitteln, in Hemdärmeln, oft auch ohne Hemde und mit nackten Armen, mit der Mütze auf dem Kopfe: aber dafür ist es auch unbefangen und naiv, wie ein Kind, dem man die ersten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/381>, abgerufen am 29.06.2024.